Den Bezug zur Bevölkerung verloren

Der seit zwei Jahren andauernde Krieg Israels gegen Gaza hat die meisten Städte des Küstenstreifens zerstört, hat zehntausende Menschenleben gefordert und große Teile der politischen und militärischen Führung der Hamas ausgeschaltet.
Mittlerweile ist klar, dass die Hamas nicht vorhergesehen hat, dass ihr Angriff vom 7. Oktober 2023 zur nahezu vollständigen Zerschlagung ihrer Strukturen führen würde. Auch die israelischen Absichten – von der Wiederbesetzung Gazas bis zur Vertreibung der Bevölkerung – scheinen von der Bewegung unterschätzt worden zu sein.
Aktuell macht Israel Gaza-Stadt dem Erdboden gleich, wie zuvor schon Rafah. Die Bewohner:innen sind komplett auf sich allein gestellt und werden erneut zur Flucht in den Süden gezwungen. Dabei sind die meisten erst kürzlich von dort zurückgekehrt, nachdem sie in früheren Phasen des Krieges bereits vor intensiven Bombardierungen geflohen waren.
Die Vision fehlt
Was in diesem Zyklus von Vertreibung und Rückkehr ausgeblieben ist, ist ein nationaler Rettungsplan. Kein führender Politiker hat bislang eine einigende Botschaft an die Bevölkerung Gazas gerichtet. Das Fehlen einer Führung ist zum prägenden Merkmal dieses Konflikts geworden.
Das ist nicht allein Folge der gezielten Tötungen und Bombardierungen. Es liegt auch daran, dass eine kohärente politische Vision fehlt, sowie an der Polarisierung zwischen Fatah und Hamas, die seit der Machtübernahme der Hamas in Gaza 2007 miteinander konkurrieren. Nicht ein einziges Mal haben sich diese Fraktionen zusammengerauft – noch nicht einmal angesichts des massenhaften Blutvergießens in ihrer eigenen Bevölkerung.
Vor Ort zeigt sich die Realität: Das israelische Militär zerstört die markanten Hochhäuser von Gaza-Stadt. Wie Dominosteine fallen Gebäude wie Mushtaha und al-Ruya. Gleichzeitig ruft das Medienbüro der Regierung in Gaza die Bevölkerung auf, nicht zu flüchten. Dies zeigt die Entschlossenheit der Hamas, den Kampf mit den ihr verbleibenden Kräften und medialen Möglichkeiten fortzuführen.

Geschichte und der Krieg in Gaza
Laut dem amerikanisch-palästinensischen Historiker Rashid Khalidi sind der Nahostkonflikt und der Krieg in Gaza in vielerlei Hinsicht eine Folge imperialer Interventionen. „Eine Lösung kann nur darauf beruhen, festgefahrene Strukturen der Vorherrschaft und Diskriminierung aufzubrechen", betont er. Nur so lasse sich eine Zwei-Staaten-Lösung realisieren.
Doch in der Bevölkerung von Gaza nimmt die Unterstützung für die Hamas spürbar ab. Dort haben Führungspersonen im Ausland mit unbedachten Statements wiederholt Wut ausgelöst.
Die jüngste Kontroverse löste Taher al-Nunu, der Medienberater des Leiters des politischen Büros der Hamas, in einem Interview vom 27. August aus. Auf die Frage der Moderatorin von RT Arabic, Mona Salman, wie er den Anschlag vom 7. Oktober heute einschätzt, antwortete er:
„Es ist nicht möglich, den 7. Oktober zu bewerten, während die Kämpfe noch andauern. Lassen Sie mich ein Beispiel aus der Geschichte anführen: den Zweiten Weltkrieg. Wie hat er begonnen und wie ist er zu Ende gegangen? Vor der Landung in der Normandie hatte Deutschland fast ganz Europa besetzt. Aber nach der Landung änderte sich die Lage komplett. Jede Einschätzung, die vor der Normandie abgegeben wurde, unterscheidet sich natürlich von einer danach!“
In Gaza löste der Vergleich eine Welle der Empörung und des Spotts aus. Auf Facebook kommentierte etwa Tayseer Abdullah: „Die wiederholten irreführenden Vergleiche des Angriffs vom 7. Oktober mit der algerischen und vietnamesischen Revolution, mit dem ägyptischen Oktoberkrieg und nun mit der Landung in der Normandie zeugen von Verwirrung und einer falschen Wahrnehmung dessen, was in Wirklichkeit geschehen ist.“
„Wir fühlen uns wie Zahlen“
Selbst Khalil al-Hayya, einer der ranghohen Hamas-Funktionäre, auf die der israelische Luftangriff in Doha vom 9. September abzielte, zog den Ärger der Menschen in Gaza auf sich. Im Juni hatte er erklärt: „Gaza hat sich für diese Nation aufgeopfert.“
Seine Worte erinnerten an eine frühere Aussage Khaled Mashals, der betont hatte: „Unsere Verluste sind taktisch, die unseres Feindes strategisch.“
Vor dem Hintergrund von mehr als 62.000 Toten, der Zerstörung hunderttausender Wohnhäuser, von Universitäten und Schulen und eines Lebens, das unter dem militärischen Druck Israels weitgehend zusammengebrochen ist, wirken solche Formulierungen für viele in Gaza wie eine Verharmlosung ihres Leids.
Abu Sami*, ein 55-jähriger Bewohner des Flüchtlingslagers Nuseirat, fasst die Lage gegenüber Qantara so zusammen: „Wir fühlen uns wie bloße Zahlen. Niemand teilt mit uns, was dieser Genozid wirklich bedeutet, niemand durchlebt den Schmerz einer Mutter, die ihren Sohn verloren hat, die Sehnsucht nach dem Zuhause, das zerstört wurde.“
Angesichts dieses hohen Preises, den Gaza zahlt, ist es an der Zeit, die Abenteuer der Hamas zu thematisieren! In den 19 Jahren ihrer Herrschaft hat die Bewegung fünf Kriege gegen Israel geführt, jeder hat tiefe Spuren im Gazastreifen hinterlassen – doch der aktuelle Konflikt führt die Region an den Rand der kompletten Zerstörung.
Im vergangenen März sind im Gazastreifen hunderte Menschen auf die Straße gegangen, um ein sofortiges Ende des Krieges und den Rücktritt der Hamas-Führung zu fordern. Zum ersten Mal, seit die Bewegung 2007 die Macht übernommen hatte, waren Rufe wie „Hamas raus!“ zu hören.
Bassem Naim, ein weiterer ranghoher Hamas-Politiker, reagierte damals auf Facebook: „Jeder hat das Recht, vor Schmerz zu schreien, aber es ist inakzeptabel, die tragischen humanitären Umstände auszunutzen, um eine fragwürdige politische Agenda voranzutreiben oder den kriminellen Aggressor – die Besatzungsmacht und ihre Armee – von der Verantwortung freizusprechen.“
Dabei geht die öffentliche Wut in Gaza längst über vereinzelte „Schmerzensschreie“ hinaus – auch unter religiösen Jugendlichen, einer Bevölkerungsgruppe, die von der Hamas traditionell als strategische Ressource für den künftigen Kampf betrachtet wird. Viele junge Menschen zeigen offen ihre Bestürzung über das Verhalten der Bewegung und ihrer Führung gegenüber der eigenen Bevölkerung.
„Diese Äußerungen haben uns verletzt, als ob unser Leben wertlos wäre“, erklärt Mahmud Mustafa aus dem Stadtteil Sheikh Radwan in Gaza-Stadt, gegenüber Qantara. „Selbst die standhaften Familien im Norden haben keinerlei Worte der Dankbarkeit erhalten, sondern wurden wie Opfergaben behandelt.“
„Eine unverantwortliche Entscheidung“
Aktuelle Umfragen, wie populär die Hamas noch ist, liegen zwei Jahre nach Kriegsbeginn aktuell nicht vor. Doch schon im September 2024 deutete eine Erhebung des Palestinian Center for Policy and Survey Research auf einen Rückgang der Unterstützung hin. Damals bewerteten 57 Prozent der Befragten in Gaza die Entscheidung für den Angriff am 7. Oktober als falsch, während 39 Prozent sie für richtig hielten.
Die Zahlen spiegelten einen anhaltenden Vertrauensverlust in die Bewegung wieder, sagt der ehemalige Hamas-Politiker Ahmed Yousef gegenüber Qantara. „Hamas hat sehr viel, wenn nicht alles, verloren durch die Entscheidung zum 7. Oktober, die selbst ihre eigene Basis überrascht hat. Wir alle haben den Preis für eine unverantwortliche Entscheidung bezahlt.“ Zum Zeitpunkt des Angriffs hatte sich Yousef in Südafrika aufgehalten, inzwischen ist er aber nach Gaza zurückgekehrt, wo er mit seiner Frau in einem Zelt in Khan Younis lebt.
Die Verantwortlichen, sagt er, erlägen einer „Illusion und verstehen das Leid der Menschen vor Ort nicht. Sie versuchen, ihre Anhängerschaft davon zu überzeugen, dass der Widerstand intakt ist. Dabei sieht die Realität völlig anders aus.“
„Gaza wird belagert“, fügte Yousef hinzu, „überwacht von Panzern und Drohnen, die mit modernster Technologie und den stärksten Waffen ausgestattet sind.“

Das ganze Leben in nur einer Tasche
Die israelische Offensive in Gaza hat tausende Menschen mehrfach vertrieben. Viele von ihnen haben nur eine Tasche dabei. Darin: Ausweispapiere, einige persönliche Gegenstände und Erinnerungen an ihr altes Leben.
Dass die Hamas bereit ist, Kritik wie diese anzunehmen oder sich einzugestehen, dass sie im Gazastreifen an Rückhalt verliert, ist wenig wahrscheinlich. Dementsprechend wird sie weder kapitulieren noch ihre Waffen abgeben, selbst nicht, wenn sie allein weiterkämpfen müsste.
Es ist diese Haltung, die Leute wie der US-Präsident nicht begreifen. Donald Trump agiert, als handele es sich um einen amerikanischen Film, in dem der „Held“ die „Bösen“ am Ende stets besiegt. Während dieser Artikel entsteht, ruft Trump die Hamas erneut zur Kapitulation auf: „Lasst jetzt alle Geiseln frei, sonst ist alles möglich.“
Doch solche Drohungen kümmern die Hamas kaum noch. Selbst die Stimmen der Menschen in Gaza hört sie nicht mehr, weder bei Verhandlungen in ihrem Namen noch bei Entscheidungen vor Ort. Vielmehr geht sie mit der Bevölkerung um, als stünde diese außerhalb des nationalen Gefüges.
Indes zahlen die Bewohner:innen Gazas weiter mit dem Leben – ihrem eigenen oder dem ihrer Angehörigen – für eine Entscheidung, die alle an den Rand des Abgrunds geführt hat. Um mit dem deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche zu sprechen: „Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“
* Name aus Sicherheitsgründen geändert
Dieser Text ist eine bearbeitete Übersetzung des arabischen Originals. Aus dem Englischen von Annalena Heber.
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