Den Häschern entkommen
Fatma (Name geändert), eine jung verheiratete Frau aus der Region um Diyarbakir in Südostanatolien, wird von einem Verwandten sexuell belästigt. Als sich die junge Frau ihrer Schwiegerfamilie anvertraut, glaubt man ihr nicht. Nicht zu Unrecht heiße es in einem türkischen Sprichwort: "Wenn eine Hündin nicht mit dem Schwanz wedelt, kommt auch kein Rüde".
Als Fatma von Nachbarn erfährt, dass sie von der Familie ihres Mannes mit dem Tod bestraft werden soll, läuft die junge Frau fort. Man bringt sie schließlich zum Frauenzentrum KA-MER in Diyarbakir.
Dort versteckt man sie und bittet sie, ihre Version der Geschichte auf Kassette aufzunehmen. Mindestens sechs Mal fahren Mitarbeiterinnen von KA-MER in Fatmas Heimatdorf und spielen die Aufnahme den Männern der Familie vor. Am Ende glaubt man ihr und hebt das Todesurteil, das die Familie über sie verhängt hat, auf.
Gnadenlose Strafe
Nicht immer verlaufen die Interventionen von KA-MER so erfolgreich. Von 23 Frauen, die im Jahr 2003 bei KA-MER Zuflucht und Unterstützung gesucht haben, sind zwei ihren Häschern nicht entkommen. Sie seien ermordet worden, erklärt Nebahat Akkoc, die KA-MER vor acht Jahren mitgegründet hat.
Das Ziel von KA-MER – eine Abkürzung von Kadin Merkezi (Frauenzentrum), ist, Frauen mit Todesangst Sicherheit und Schutz zu geben. Pro Jahr meldeten sich etwa 300 verzweifelte Frauen beim Notruftelefon von KA-MER, so Akkoc.
Alle Mitarbeiterinnen der Frauenhilfsorganisation, Psychologinnen, Ärzte, Anwältinnen und andere freiwillige Helferinnen haben selbst Erfahrungen mit Gewalt. Ihr Hauptanliegen sehen sie in der Intervention.
"Melden sich bei uns Frauen, die in Gefahr sind, suchen wir Menschen, die Einfluss auf die Familie haben, wie zum Beispiel Imame oder auch der Bürgermeister", erklärt die große selbstbewusste Frau.
Nebahat Akkoc ist Witwe. Als sie sich weigerte, nach der Ermordung ihres Mannes Mitte der neunziger Jahre erneut zu heiraten und damit der Tradition und vor allem der Familie zu gehorchen, beschloss sie, sich für Frauen in ähnlich schwierigen Situationen zu engagieren.
Nach der Gründung der ersten Zufluchtsstätte für Frauen in Anatolien im Jahr 1997 in Diyarbakir, gibt es inzwischen KA-MER-Zentren in Batman, Bingöl und Kiziltepe. In Urfa, Hakkari und Mardin sollen weitere Einrichtungen entstehen.
Mit der Gründung von KA-MER in Diyabakir hatte Nebahat Akkoc auch eine Studie über die Lage der Frauen angeregt. In den Jahren 1997 bis 2003 hätten sie und ihre Mitarbeiterinnen über 5000 Frauen in Südostanatolien nach deren Lebenssituation befragt. 57 Prozent der Frauen gaben dabei an, familiärer Gewalt ausgesetzt zu sein, 15 Prozent berichteten von wiederholten Morddrohungen.
Erschreckende Bilanz
"Ehre ist ein sehr umfangreicher Begriff", erklärt Nebahat Akkoc dieses Phänomen. Allein ein unerlaubter Kinobesuch, Schminke im Gesicht, obwohl Ehemann und Familie dagegen sind, kann für die Frau zum Tode führen, weil die so genannte Familienehre in den Augen vieler stolzer Männer verletzt wird.
Etwa 200 Ehrenmorde, so schätzt Nebahat Akkoc, werden jedes Jahr begangen. Mit diesem erschreckenden Ergebnis ist die Rate der Morde in der Türkei genauso hoch wie in Pakistan. Und zu der auffallend hohen Selbstmordrate von Frauen, besonders im Südosten der Türkei, merkt Nebahat Akkoc an: "Sind sie nur ihrer Ermordung zuvorgekommen? Sind sie gesprungen oder wurden sie vom Balkon gestoßen?".
Fragen wie diesen nachzugehen und mit einem Netzwerk von Frauenhäusern, Anwältinnen und Bildungswerken im Südosten der Türkei das Leben unzähliger Frauen zu retten, hat sich Nebahat Akkoc mit ebenso mutigen Mitstreiterinnen zum Lebensziel gemacht.
"Wir hören zu und beraten die Frauen in ihren rechtlichen Möglichkeiten", erzählt Akkoc. Sie unterstützen die Frauen, um unabhängig von Ehemann und Familie auf eigenen Füßen zu stehen. Vor allem aber machen sie ihnen klar, dass sie auch als Frau ihre Rechte haben. Die meisten von ihnen haben davon noch nie etwas gehört.
Der Weg in die richtige Richtung
Da die Unterstützung von staatlicher Seite nur sehr allmählich zunimmt, war das Zentrum in Diyarbakir von Anfang an darauf angewiesen, finanziell auf eigenen Beinen zu stehen. Haupteinnahmequelle war und ist ein selbst geführtes Restaurant, in dem KA-MER-Mitarbeiterinnen kochen und bewirten.
Von dem erwirtschafteten Geld wird nicht nur die Verwaltung, sondern auch ein hauseigener Kindergarten finanziert. Bisher werden 20 Kinder betreut, die von Eltern dorthin geschickt werden, die wiederum an einer Erneuerung der Gesellschaft mitwirken wollen.
Wer sein Kind zu KA-MER schickt, weiß, dass die Erzieherinnen den Kindern beibringen, dass Mädchen und Jungen die gleichen Rechte haben, dass Mädchen keine unterwürfigen Geschöpfe sind, sondern Menschen, die man achten und respektieren muss.
Sigrid Dethloff
© Qantara.de 2006
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