Ende der AKP-Herrschaft?
Die Kommunalwahlen in der Türkei brachten das schlechteste Gesamtergebnis für die AKP seit ihrer Gründung. Alle wichtigen Großstädte im Westen gingen an die oppositionelle kemalistische CHP. Die islamistische Neue Wohlfahrtspartei feierte ein paar Überraschungserfolge und in den mehrheitlich kurdischen Gebieten dominiert die DEM - ehemals HDP - mit großem Abstand.
Nur in ihren traditionellen Hochburgen in Zentralanatolien und an der Schwarzmeerküste konnte die AKP ähnlich gute Ergebnisse einfahren wie zuvor. Ob hiermit bereits das Ende der AKP-Herrschaft besiegelt ist, wird sich zeigen. Klar ist jedoch, dass die Aura der Unbesiegbarkeit, die die AKP knappe 20 Jahre lang umgab, verflogen ist.
Anhänger der großen Oppositionsparteien CHP und DEM laufen mit lachenden Gesichtern und leuchtenden Augen durch die Städte, das Gefühl der Ohnmacht ist gebrochen. Man muss sich hierbei jedoch in Erinnerung rufen, dass Kommunalpolitik in der Türkei nur begrenzten Einfluss auf die nationale Ebene hat.
Die türkische Republik ist ein stark zentralisierter Staat und in wichtigen Belangen hat Ankara das letzte Wort. Durch das unter der AKP eingeführte Präsidialsystem hat sich diese Tendenz nochmal verstärkt. Kein Vergleich etwa zum föderalen Deutschland.
Politik ist aber niemals nur durch Zahlen und Stimmenanteile zu verstehen, sondern besteht zu großen Teilen aus Psychologie: Wer sich im Aufwind wähnt, wird kühner und steckt an mit seinem Mut.
Im Fall von AKP und Erdoğan scheint gar Übermut eine Rolle zu spielen: Die schiere Allmacht der letzten Jahre hat dazu geführt, dass man sich in seinem Sessel allzu wohl gefühlt hat. Schlechte Politik ließ man ungeniert laufen und unlautere Mittel wurden zu offensichtlich genutzt, so dass selbst Anhänger der AKP und der MHP (dem faschistischen Koalitionspartner) unzufrieden wurden.
Zwischen kemalistischer Nostalgie und neuen Realitäten
Die CHP gibt sich als sehr moderne, an Europa orientierte Partei. Ihre Wählerschaft versteht sich nicht nur als ideale Repräsentantin einer modernen Türkei, sondern auch als wahrhafte Inhaberin der Republik. Viele träumen von einer Rückkehr der Vergangenheit: Der Wahlsieg wird mit Bildern von Atatürk gefeiert, der wahre Geist der Türkei sei zurück, heißt es.
Doch die Politik Atatürks war schon 1923 nicht unbedingt angemessen für die Türkei. 100 Jahre später ist sie es erst recht nicht. Der blanke Nationalismus, der an Frankreich orientierte strikte Laizismus bei gleichzeitiger Erhebung des Sunnitentums zur tragenden Säule des Nationalcharakters sowie der autoritäre Jakobinismus Atatürks sind für viele Spannungen und Probleme (sowie einige Massaker) in der Türkei verantwortlich.
Die neue Führung der CHP gibt allerdings Grund zur Hoffnung: Der Bürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, sowie der neue Parteivorsitzende Özgür Özel zeigen sich wesentlich eher bereit, die kulturelle, religiöse und sprachliche Vielfalt der Türkei anzuerkennen. Der vorherige Vorsitzende und Präsidentschaftskandidat Kılıçtaroğlu hatte seine Kampagne auf eine flüchtlingsfeindliche Rhetorik gestützt, die der Kampagne der AfD in nichts nachstand.
Die Türkei ist längst ein Einwanderungsland
Große Teile der Wählerschaft der CHP denken ähnlich: Sie meinen, die Türkei müsse türkisch bleiben. Syrer und Afghanen sollten in ihre Heimatländer zurückgehen, denn sie brächten nichts als Verbrechen und Vergewaltigungen. Die CHP scheint sich eine Vergangenheit zurückzusehen, die es so nicht gab, die aber auch nicht wünschenswert ist.
Die AKP hat die Türkei erfolgreich nach Osten, nach Asien und Afrika, geöffnet. Wohlhabende Geschäftsleute tätigen Investments, Touristen vom Golf und aus dem Iran lassen ordentlich Geld in Restaurants und Einkaufszentren, Arbeitskräfte aus Afrika halten das Land am Laufen.
Die Türkei ist mittlerweile ebenso ein Einwanderungsland geworden wie Deutschland. Nur leider ist sie nicht annähernd so weit darin, diese Realität anzuerkennen. Die CHP scheint von allen wichtigen Parteien am weitesten davon entfernt zu sein, diese Tatsache anerkennen und eine angemessene Politik anbieten zu können.
Viel ist die Rede von einer angeblichen Islamisierung der Gesellschaft nach der langen Herrschaft von Erdogan und der AKP. In Teilen stimmt diese Kritik: Sehr viele staatliche Aufträge und Grundstücke werden vermehrt an erzkonservative muslimische Orden und Bruderschaften vergeben, die – ähnlich wie ihre geistlichen Brüder bei der katholischen Kirche - regelmäßig durch sexuelle Übergriffe an den ihnen anvertrauten Kindern Schlagzeilen machen.
Islamisierung der Gesellschaft?
Auch im Bildungssystem bekommen religiöse Inhalte mehr Raum. Ob diese Politik wirklich eine Islamisierung der Gesellschaft zur Folge hat, ist allerdings fraglich.
Viele religiös orientierte Bekannte, die ich in den letzten Tagen in der Türkei treffen durfte, bestätigen mir, dass der Unmut im konservativen und religiösen Teil der Bevölkerung ebenso groß ist, wie im säkularen Teil. Ein Interesse an einem religiösen Staat bestehe allerhöchstens bei einem winzigen Bruchteil der Bevölkerung.
“Der einzige Unterschied liegt darin, ob auf dem Tisch ein Bier steht oder ein Çay (dt. Tee, Anm. der Red.). Ansonsten wird an den Tischen in all diesen Häusern über dieselben Themen diskutiert”, erzählt mir ein Freund in Üsküdar, dem asiatischen Teil von Istanbul.
Die frustrierten AKP-Wähler lassen sich in drei Gruppen einteilen: Wer zuvor die AKP vor allem aus pragmatischen Gründen gewählt hat, stimmte jetzt für eine der säkularen Alternativen (Türken eher CHP, Kurden eher DEM).
Wem eine eine konservativ-muslimische Ausrichtung wichtig ist, der hat sich für eine in Teilen noch krudere islamistische Partei entschieden (die Neue Wohlfahrtspartei oder Yeniden Rafah Partei, die sich der Tradition Erbakans verpflichtet fühlt), während ein nicht zu unterschätzender Teil der Wählerinnen und Wähler wohl einfach zu Hause blieb.
Sollten die Oppositionsparteien ihren Erfolgskurs fortsetzen können und Erdoğan nichts Grundlegendes an seiner Politik ändern, dürfte sich der Wählerschwund noch verschärfen.
İmamoğlu - Erdoğans großer Widersacher?
Erdoğan scheinen die Hände gebunden. Er hat die AKP und den türkischen Staat umstrukturiert, um sein einziges Ziel zu verfolgen: die absolute Machtsicherung. Damit hat er alle kompetenten Mitstreiter und Verbündeten - wie Abdullah Gül, Ahmet Davutoglu, oder die kurzzeitige Präsidentin der Zentralbank Hafize Gaye Erkan - vergrault oder verloren.
Die von ihm auf wichtigen Posten eingesetzten Personen stammen ausschließlich aus seinem nahen Umfeld und sind meist inkompetent, wie etwa sein Sohn. Selbstüberschätzung, wie bei seiner eigenwilligen Zinspolitik (die er allen Ratschlägen der Ökonomen zum Trotz beibehielt und die mitverantwortlich für die verheerende Inflationskrise ist), die vielerorts offensichtliche Misswirtschaft, ein System von Klientelismus und Patronage, aber auch die Instrumentalisierung der Justiz, die auch dem Gerechtigkeitssinn vieler treuer Anhänger widerspricht, haben Erdoğan in eine verzwickte Lage gebracht.
Bei den letzten Wahlen konnte er sich nur behaupten, indem er schamlos alle Mittel des Staates ausreizte, und auch das gelang nur knapp.
Aus freien und fairen Wahlen wäre er sicherlich nicht als Sieger hervorgegangen. Wenn er nun den entstandenen Imageschaden abwenden will und seine Allmacht weniger nutzt, ist eine Niederlage hochwahrscheinlich.
Intensiviert er stattdessen die Klientelpolitik, die Zurschaustellung seiner Macht und die Repression, droht die Stimmung vollends gegen ihn zu kippen. Da die Türkei zwar zur Autokratie umgebaut wurde, jedoch noch keine komplette Diktatur ist, besteht eine realistische Chance, dass ihm diese Zwickmühle zum Verhängnis wird. Nun hängt alles von der Opposition ab, vor allem von einem Mann.
Ekrem İmamoğlu steht nach den Kommunalwahlen als großer Sieger da und wird bereits als aussichtsreicher Kandidat für die nächste Präsidentschaftswahl gehandelt. Dass so viele Menschen große Hoffnungen in den Bürgermeister Istanbuls setzen, kommt nicht von ungefähr.
Im Gegensatz zu Kemal Kılıçtaroğlu, dem ehemaligen Vorsitzenden und Präsidentschaftskandidaten der CHP, der mit seinen mehr als 70 Jahren sowie seinem wenig charismatischen Bürokratengehabe dem redegewandten Erdoğan kaum etwas entgegensetzen konnte, verfügt der 52-jährige Ekrem İmamoğlu über das notwendige Charisma und mitunter ein dem Präsidenten nicht unähnliches Auftreten.
Er kommt, ebenso wie der Präsident, aus der Schwarzmeerregion, was ihm Sympathien bei vielen konservativ-nationalistischen Wählern einbringt.
Es liegt nahe, dass auch dem seit 2016 grundlos inhaftierten HDP-Politiker Selahattin Demirtaş nicht bloß dessen politische Überzeugung, sondern auch sein Charisma zum Schicksal wurde.
Zeit für eine liberale Politik
Viele gläubige und Kopftuch tragende Frauen sind mittlerweile unübersehbar Teil der Arbeitswelt sowie des öffentlichen Lebens in der Türkei. Sie arbeiten als Anwältinnen, Sprecherinnen im Fernsehen oder leiten mittelständische Unternehmen. Die große Angst der Kemalisten bestand darin, dass die öffentliche Sichtbarkeit des Kopftuchs die Islamisierung des Landes fördere.
In Wahrheit hat die Politik der AKP dazu geführt, dass viele Frauen nun erst recht keine patriarchale Ordnung mehr akzeptieren, die sie ins Haus verbannen und ihnen Karriere, iPhone und Instagram versagen will. Viele Menschen aus dem religiösen Spektrum - vor allem Frauen - vertreten sehr liberale Ansätze und sind scharfe Kritiker der Regierung.
Diesen Teil der Gesellschaft gilt es, in eine moderne Politik einzubinden, anstatt ihnen Rückständigkeit zu unterstellen und sie getreu der kemalistischen Tradition umerziehen zu wollen. Große Teile der CHP hadern immer noch damit, religiöse Menschen als gleichberechtigte Teile einer demokratischen Türkei und als ernstzunehmende Partner bei Diskussionen, im Geschäftsleben oder in der Politik anzuerkennen.
Bewegung in der Kurdenfrage?
Mindestens ebenso wichtig ist die Frage der Minderheiten, allen voran der Kurden. Die zwei wichtigsten Vertreter der CHP, Istanbuls Bürgermeister İmamoğlu und der Parteivorsitzende Özel, haben in verschiedenen Ansprachen und Mitteilungen bereits gezeigt, dass sie bei diesem Thema durchaus weiter sind als die traditionell sehr nationalistischen Strömungen in der CHP, die gar so weit gehen, die Existenz von Kurden zu leugnen.
Mit einem Wählerpotential von 10 bis 15 Prozent ist die aus der kurdischen Freiheitsbewegung erwachsene DEM (vormals HDP) nach der CHP die wichtigste Oppositionspartei. Sie hat sich unglaublicher Repression zum Trotz behauptet und nicht nur in ihrer Heimat – den mehrheitlich kurdischen Regionen – haushohe Siege eingefahren. Gleichzeitig ist sie in den wichtigen großen Metropolen auch strategisch klug vorgegangen und hat der AKP dadurch oft den entscheidenden Schlag versetzt.
Einfache Forderungen wie mehr regionale Freiheiten, die Einführung von Kurdisch als Amtssprache etwa in Gerichten und ähnliches sind für die Anhängerschaft der CHP leider immer noch ein rotes Tuch. Die DEM - meist im Stich gelassen von der nationalistischen Opposition - hat sich auch nicht der Versuchung hingegeben, sich der AKP anzunähern.
Stattdessen hat die DEM immer wieder zu verstehen gegeben, dass sie sich als Teil einer Politik sieht, die Menschenrechte und liberale Freiheiten für die gesamte Türkei bringen will. Hierfür würde sie mit der CHP an einer demokratischen Türkei arbeiten.
Die CHP sollte diese ausgestreckte Hand mutig und selbstbewusst annehmen, anstatt Wähler am rechten und faschistischen Rand bedienen zu wollen, wie sie es so oft in den letzten Wahlen gemacht hat.
Wir erinnern uns: Ihren anfänglichen Erfolg verdankte die AKP vor allem ihrer liberalen Politik. Staatliche Sender produzierten Programme auf Kurdisch; Armenier, Griechen und Juden konnten erstmals wieder Gotteshäuser öffnen, was unter der angeblich säkularen Politik in der Türkei bis dahin nicht möglich war.
Ein ähnliches Moment muss nun die CHP erzeugen und der Türkei ein Narrativ präsentieren, dass die kulturelle und religiöse Vielfalt der Geschichte und Bevölkerung des Landes anerkennt sowie das wirtschaftliche Potential des Landes auf demokratische Art zur Blüte bringen kann. Dass dieses Potential existiert, hat das erste Jahrzehnt unter der AKP eindrucksvoll bewiesen.
AKP zwischen Allmacht und Übermut
Die Kommunalwahlen haben ein wichtiges Signal gesendet, und zwar in alle Richtungen: CHP und DEM sind motiviert und voller Hoffnung, während sich in der AKP Unsicherheit und Ernüchterung breitmachen. Der AKP-Staat übt jedoch weiterhin eine unkontrollierte Macht aus, wie sich an den offenkundigen Wahlmanipulationen in vielen kurdischen Gebieten zeigt.
In Şırnak/Şirnex in der kurdisch geprägten Region Südostanatolien und in weiteren, mehrheitlich kurdischen Orten wurden Soldaten und Sicherheitskräfte in Massen an die Wahlurnen gekarrt. Sie sollten für die AKP stimmen, was vielerorts den entscheidenden Unterschied machte und der AKP oder ihrem Partner MHP zum Wahlsieg verhalf.
Die Wahlmanipulationen sind durch Videos in den sozialen Medien belegt und sprichwörtlich unter aller Augen geschehen. Soldaten im Dienst dürfen laut türkischer Gesetzgebung gar nicht an Wahlen teilnehmen - es gibt jedoch keine Instanz, die die AKP an diesem eklatanten Gesetzesbruch hindern könnte.
Gleichzeitig sehen wir, dass die AKP einen Balanceakt vollführt und aufpassen muss, ihre Macht nicht überzustrapazieren: Im ebenfalls mehrheitlich kurdischen Van/Wan gewann Abdullah Zeydan von der DEM die Wahl mit großem Abstand. Er war zuvor von staatlicher Seite als Kandidat genehmigt worden.
Gescheiterte Wahlfälschung
Kurz nach der Wahl wurde die Hohe Wahlkommission YSK von einem plötzlichen, doch wenig überraschenden Sinneswandel ergriffen: Zeydan habe doch kein passives Wahlrecht, dürfe somit das Bürgermeisteramt nicht antreten. Der Kandidat mit den zweitmeisten Stimmen solle stattdessen Bürgermeister werden, der Kandidat der AKP.
Dieser plumpe und undemokratische Versuch, die Wahl des DEM-Politikers zu verhindern, erwies sich als Fehlkalkulation. Nicht nur die DEM, sondern auch die wichtigsten Stimmen der CHP protestierten gegen diesen "Putsch". Die Bevölkerung von Van/Wan ging in Massen auf die Straße, Bilder von rücksichtsloser Polizeigewalt machten in den sozialen Medien die Runde und selbst eingeschworene Anhänger der Regierung empfanden die in der Wahlnacht ausgesprochene Entscheidung als offenkundiges Unrecht.
Die AKP musste zurückrudern und Abdullah Zeydan wurde mit einem Tag Verspätung die Bürgermeisterurkunde überreicht. Die Geschwindigkeit, mit der die Hohe Wahlkommission die Entscheidung fällte und angesichts des Widerstands wieder rückgängig machte, unterstreicht den willkürlichen und politischen Charakter der Vorgänge.
Die Geschichte zeigt aber auch, dass die AKP sich vor einem ernsthaften Legitimationsverlust fürchtet. So sehr die ohnehin ungenügenden demokratischen Strukturen des Staatsapparats in den vergangenen zehn Jahren auch ausgehöhlt und zur Autokratie umgeformt wurden, Erdoğan und seine Partei sind dennoch auf die Unterstützung zumindest einer stabilen und überzeugten Mehrheit angewiesen.
Es liegt nun alles daran, ob CHP und İmamoğlu die Gunst der Stunde nutzen, die Veränderungen in der Türkei richtig lesen und eine Politik betreiben können, die die Türkei in eine liberale Demokratie verwandelt, ohne ihre größtenteils nationalistischen und elitären Stammwähler zu verschrecken. Das Potential dazu scheint İmamoğlu zu haben.
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