"Ich habe meinen Körper dort verlassen"
Außer dem rhythmischen Trommeln des Regens auf der weißen Plastikplane ist nichts zu hören. Kein Fernseher, keine Musik, kein Kinderlachen. Diese Stille ist besonders laut nach der Anreise durch das Verkehrschaos auf den Straßen von Cox's Bazar. Die Ruhe wird nur vom Sprechgesang des Muezzins unterbrochen. Silbergraue Lautsprecher hängen in den Bäumen und senden den Ruf zum Gebet über die Hügel und durch die verschlammten Täler.
Im Nordosten Kutupalongs, dem größten Flüchtlingslager der Welt, liegt Camp 7. Knapp 40.000 Menschen leben dort auf etwa einem Quadratkilometer. Die Zahl ist geschätzt. Niemand weiß genau, wie viele Rohingya mittlerweile hier im ehemaligen Dschungel des Küstenorts an der Grenze zwischen Bangladesch und Myanmar gestrandet sind. In den verschiedenen Camps leben eine Million Menschen, vielleicht sind es auch 1,2 Millionen oder noch mehr. Je nachdem, wen man fragt.
Muslimische Minderheit
Seit den 1970er Jahren flieht die muslimische Minderheit aus Myanmar. Aber noch nie kamen so viele auf einmal wie im vergangenen Jahr. Innerhalb weniger Monate retteten sich über 700.000 Männer und Frauen vor der brutalen Gewalt. Wie viele Menschen ermordet wurden, weiß niemand. Klar ist allein, dass es einer der schlimmsten Genozide in der jüngeren Geschichte des Subkontinentes ist.
Fatima ist eine, die überlebt hat. Sie reibt mit den Fingern über ihre Zähne. Piddelt am Zahnfleisch. Es ist entzündet vom Kauen der Tabak- und Betel-Blätter, die an den Zähnen schwarze Ränder hinterlassen - und die dunklen Erinnerungen ein wenig betäuben sollen. An manchen Fingern sind die Nägel bis aufs Fleisch abgekaut.
Zwei kleine Söhne
Sie ist 20 Jahre alt. Hat zwei kleine Jungs. Bevor sie aus Myanmar floh, wurde Fatima vergewaltigt. 30 oder 40 Mal. In einer Nacht. Sie kann nicht sagen, wie oft. Auch nicht, wie viele Männer es waren. "Ich habe meinen Körper dort verlassen." Sie spricht mit leiser Stimme. Die Augen blicken leer auf den gestampften Lehm-Boden. Selbst im direkten Augenkontakt gibt es keine Begegnung. Als wäre eine innere Tür in den dunklen Augen zugezogen.
Wir sitzen auf einem türkis-rot gestreiften Teppich im vorderen Raum der Hütte. Es gibt einen kleinen Plastikhocker.
Ihr Mann Ali, nur zwei Jahre älter, hockt neben ihr, als sie ihre Geschichte erzählt. Er musste, wie viele andere, sein Dorf verlassen, als die Milizen kamen, um nicht getötet zu werden. Seine Frau, das Baby und den damals 14 Monate alten Sohn ließ er mit seinen Eltern zurück. Das war vor einem guten Jahr.
Es hat nicht viele Nächte gedauert, bis sie kamen und Fatima in die Wälder zerrten. In dem Verschlag kauerten schon andere Frauen und weitere kamen aus den umliegenden Dörfern dazu.
Die Horde fiel über sie her. Immer und immer wieder. Niemand hörte das Röcheln und die Schreie. Die Ehemänner oder Brüder, die sie hätten retten können, waren tot oder um ihr Leben gerannt. Wie Ali.
Irgendwie hat Fatima es zurück ins Dorf geschafft. Kundige Hände versorgten ihre Wunden auf dem Weg. Sonst wäre sie wohl verblutet. Wahrscheinlich wird sie nie wieder Kinder bekommen können.
Mit den Schwiegereltern floh sie über den Grenzfluss ins benachbarte Bangladesch, internationale Hilfsorganisationen unterstützten sie dabei, Ali zu finden. "Für mich ist es kein Problem, bei ihr zu bleiben", sagt er. Sie habe das ja nicht freiwillig gemacht.
Vergewaltigte Frauen werden oft verlassen
Mit "das" ist die Massenvergewaltigung gemeint. Und tatsächlich verlassen viele Rohingya ihre vergewaltigten Frauen. Lassen sie alleine mit den Kindern – und dem Schmerz. Weil ein anderer Mann sie gehabt und damit nach Vorstellung vieler Männer entehrt habe.
Für eine westlich sozialisierte Frau ist vieles fast unerträglich fremd. Dass die Frauen zum Beispiel ihre Hütten kaum verlassen. Auch nicht in der Gluthitze des bengalischen Sommers, wenn es in den Baracken weit über 40 Grad heiß wird. "Es sind keine Gesetze, die das vorschreiben, sondern eingeübte Traditionen", erklären Mitarbeiterinnen des Roten Kreuzes. Frauen verlassen in der Kultur der Rohingya das Haus nur, wenn es unbedingt sein muss.
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Sichere Orte in den Camps
Ein wenig Erleichterung verschaffen die Frauenorte. Über die Camps verstreut sind es mittlerweile 19 größere Hütten, die von internationalen Organisationen betreut werden. Weil es dort medizinische Beratung gibt, trauen sich wenigstens manche Frauen, ein paar Stunden an diesem sauberen, sicheren Ort zu verbringen. Wenn die Stromversorgung funktioniert, laufen sogar die Ventilatoren. Es gibt eine ordentliche Toilette. Und die Möglichkeit, die Kinder richtig zu waschen.
Von den Hügeln herab eröffnet sich ein schrecklich beeindruckendes Bild. Endlos reihen sich Hütten an Hütten. Plastikplanen, die auf Konstruktionen aus Bambusrohr gespannt sind, bilden die Wände, oft auch die Dächer. Nur wenige Häuser haben ein Blechdach.
Klassische Notunterkünfte
Fatima und Ali leben in einem der illegalen Camps, die ganz schnell hochgezogen wurden, als vor einem Jahr innerhalb kürzester Zeit die über 700.000 Rohingyas irgendwie untergebracht werden mussten. Klassische Notunterkünfte. Die für eine Erstversorgung gedacht sind. Nicht aber, um auf Dauer zu bleiben.
Aber genau das ist es, was Fatima und Ali erwartet. Myanmar macht keine Anstalten, den Rohingyas Papiere auszustellen oder sie gar ins eigene Land zurück zu lassen. Ohne gültige Dokumente sind Rohingya offiziell staatenlos und vom Wohlwollen der bangladeschischen Regierung abhängig.
Zuspruch schwindet
Bangladeschi kennen Verfolgung. In der wechselhaften Geschichte des Landes gab es immer wieder Flucht und Vertreibung. Am Anfang hatte man Verständnis für die Flüchtlinge. Das ändert sich langsam. Viele haben das Gefühl, dass ihr Land schon mehr als genug getan habe, um die Fremden zu versorgen. Bei den regelmäßigen Naturkatastrophen gibt es schließlich kaum genügend Hilfskräfte, um die eigene Bevölkerung zu retten. Überhaupt fehlen überall Polizisten, um die zunehmende Gewalt und den von Kartellen organisierten Drogen- und Waffenschmuggel zu unterbinden.
Auch wächst die Angst vor der Radikalisierung junger Muslime. Denn die Menschenfänger haben in den Hütten der Hoffnungslosigkeit ein leichtes Spiel. Offiziell dürfen die Rohingya die Lager nicht verlassen, dürfen nicht arbeiten, die Kinder bekommen nur eine sehr rudimentäre Schulbildung.
Unendliches Verlorensein
Wie es weitergehen soll? Fatima hat nur einen Wunsch. Sie will wieder zurück. In ihre Heimat. Vielleicht hat sie die Hoffnung, dort wiederzufinden, was sie in dieser Nacht verloren hat, in dem Verschlag im Wald. Vielleicht reicht aber auch einfach die Kraft nicht, sich ein neues Leben in der Fremde vorzustellen.
Der Regen trommelt weiter auf die weiße Plastikplane. Er wird zum Rhythmus des Wartens inmitten des unendlichen Verlorenseins.
Ines Pohl
© Deutsche Welle 2018
Ines Pohl ist seit 2017 Chefredakteurin der DW.