Anklage und Versöhnung
"Jeden Tag stehen Leute vor mir, die ein Familienmitglied verloren haben oder ihre einzige Einkommensquelle. Viele kennen die Täter, sie kommen mit Fotos und manchmal sogar mit der Handynummer des Beschuldigten zu uns."
Hela Ammar ist Mitglied der Kommission, die sich mit der Aufarbeitung der Verbrechen beschäftigt, die seit dem 17. Dezember 2010, dem Tag der Selbstverbrennung Mohamed Bouazizis, in Tunesien geschehen sind. An diesem Abend sitzt die Juradozentin in einem Café Citoyen, einem "Bürgercafé", das eine tunesische NGO organisiert hat, und diskutiert mit einem Kollegen und rund 50 Gästen über die tunesische Übergangsjustiz.
Schleppender demokratischer Übergang
Viele Anwesende sind frustriert, denn der demokratische Wechsel geht ihnen viel zu langsam voran. Gegen kaum einen der mutmaßlichen Täter läuft bis jetzt ein Verfahren. Die staatlich eingesetzte, aber unabhängige Untersuchungskommission kann
die Übergriffe gegen die Bevölkerung nur dokumentieren. An die Justiz weitergeben müssen sie aber die Opfer selbst.
Nach zwei Stunden sachlicher Diskussion platzt es aus Hela Ammar heraus. "Natürlich prüfen wir, ob bereits ein Haftbefehl vorliegt.
Aber wer führt den denn aus? Die Polizei!", schreit die Juristin fast verzweifelt. "Und sie wissen doch wie es bei der Polizei aussieht, die müsste ja selbst erst mal von den Mitgliedern des alten Regimes gesäubert werden."
Die Frustration derer, die den demokratischen Wechsel in den Institutionen voranbringen sollen, ist an diesem Abend genauso hoch wie die der Bürger. Im Café herrscht für kurze Zeit vollkommene Stille.
Die Drahtzieher des alten Regimes werden nicht ungeschoren davonkommen, dessen ist sich Hatem El Hattab sicher. Der Leiter der Kulturabteilung des Nationalarchivs sitzt in seinem Büro im Zentrum von Tunis und blickt durch eine Glasscheibe auf den Lesesaal. Bald, so hofft er, werden die Tunesier hier die Dokumente der Ära Ben Ali studieren können.
Gerade erarbeite eine Arbeitsgruppe einen Vorschlag zur Änderung des Archivgesetzes, so dass die Unterlagen so bald wie möglich zugänglich gemacht werden können. Ben Ali und seine Berater hatten einen mafiösen Parallelstaat geschaffen, berichtet Hattab.
Die Hydra des Systems Ben Ali
"Es handelt sich um eine regelrechte Doppelstruktur, der Staat existierte quasi zweifach. Alles, was in einem Ministerium, einer Stadtverwaltung oder einem Kommissariat passierte, das landete auch bei Ben Ali im Palast."
Dass um den 14. Januar herum Polizeistationen und Rathäuser zerstört und Dokumente verbrannt wurden, bleibe damit letztendlich ein symbolischer Akt. Im Palast existieren Kopien aller wichtigen Dokumente, die Dank der überhasteten Flucht des gestürzten Präsidenten nicht angetastet wurden – auch die unzähligen Berichte des Geheimdiensts und der politischen Polizei, denen es in 23 Jahren gelungen war, das zivilgesellschaftliche Leben des Mittelmeerstaates fast völlig zu ersticken.
"Das Regime Ben Ali hat sich mit seinem Überwachungswahn selbst überlistet. Seine eigenen Dokumente werden dazu dienen, es zu verurteilen", sagt Hattab mit einem freudigen Lächeln.
Berichte des Geheimdienst, das Ringen um einen Termin für Neuwahlen, Reformen der Justiz – die Herausforderungen für einen gelungenen demokratischen Übergang sind groß. Auf der Suche nach den besten Instrumenten schauen die Tunesier auch nach Deutschland.
Wie in einer Zeitmaschine
"Ich fühle mich hier wie in einer Zeitmaschine", sagt Hubertus Knabe, Leiter der Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen, der bei seinem Tunesien-Besuch mit den Reformkommissionen über mögliche Strategien der Aufarbeitung diskutiert. Das Land durchlaufe einen ähnlichen Prozess wie Deutschland nach dem Mauerfall. Mit dem vielleicht entscheidenden Unterschied, dass in Deutschland auf Beamte und Richter aus dem Westen zurückgegriffen wurde.
Wer jedoch in Tunesien im Staatsapparat Karriere gemacht hat, war im besten Fall ein schweigender Mitläufer. Unabhängige Richter lassen sich heute an einer Hand abzählen, denn wer Ben Ali zu unbequem wurde, der war seinen Richterstuhl schnell los. Und so heißt es warten auf die nächste Generation.
"Tunesien ist im Vergleich zur DDR in einer wesentlich schwierigeren Situation. Sie können ja nicht einfach die Bevölkerung austauschen, sondern höchstens versuchen, möglichst schnell junge Leute nach oben zu bringen", meint Knabe.
Als Demokratie-Exporteur sieht er sich nicht. Es gäbe unzählige ähnliche Fälle weltweit, jedes Land müsse seinen eigenen Weg finden. "Wir können nur berichten, was bei uns gut funktioniert hat und was weniger, und welche Fehler wir gemacht haben."
Die schnelle Auflösung der ehemaligen Regierungspartei RCD lobt er bei seinem Besuch, doch Sorge bereitet ihm, dass viele staatliche Institutionen weiterarbeiten, als sei nichts geschehen.
Menschenrechtsorganisationen berichten nach wie vor von Folter, und die Polizei, die eigentlich dem Innenministerium untersteht, agiert teilweise unabhängig von dessen Anordnungen. Was in den Kellern des Ministeriums geschieht, weiß die Öffentlichkeit genauso wenig wie zu Zeiten Ben Alis.
Hubertus Knabe hätte sich den imposanten grauen Betonblock auf der Hauptstraße von Tunis, für die Bürger des Landes der Inbegriff der Unterdrückung, gerne genauer angesehen. Das sei leider nicht möglich, wurde ihm schnell mitgeteilt.
Zwischen Dekonstruktion und Rekonstruktion
"Wir befinden uns zwischen Dekonstruktion und Rekonstruktion, wir stecken quasi noch mitten in der Revolution. Da ist es normal, dass nicht alles reibungslos verläuft", versucht Abdelfattah Amor zu erklären.
Dem Leiter der Kommission zur Aufklärung von Korruption und Unterschlagung bereitet Sorge, dass Anhänger des geflohenen Präsidenten versuchen, das Machtvakuum auszunutzen. "Wir müssen unglaublich wachsam sein, wir dürfen nicht im Namen der Sicherheit auf halber Strecke kehrt machen."
Amor, ebenfalls Jurist, wollte seinen Augen kaum trauen, als die Ermittler im Präsidentenpalast nicht nur Unmengen Dokumente fanden, sondern in Tresoren, die als Bücherregale getarnt waren, auch hohe Geldbeträge in den unterschiedlichsten Währungen – allein rund 21 Millionen Euro sollen darunter gewesen sein. Und tunesische Dinar, fein säuberlich abgepackt in einzelne Umschläge, mal fünfzig Dinar, mal Tausende, je nach Gegenleistung.
"Wir werden niemals alle Fälle aufklären können, dazu haben wir nicht das Personal und nicht die Mittel. Unsere Arbeit ist vor allem symbolisch. Wir wollen die Fälle aufklären, an denen die Mitglieder des alten Regimes beteiligt sind, die jetzt verzweifelt versuchen, sich eine neue Jungfräulichkeit herzustellen."
Hubertus Knabe freut sich über solche Aussagen. Wen er auch trifft: Er wird nicht müde zu betonen, dass man bloß nicht in Verklärung und Diktatur-Nostalgie verfallen dürfe.
"Wenn die Freiheit erst einmal da ist, gewöhnt man sich schnell daran und hält sie für etwas Selbstverständliches. Aber man sollte sich den Abgrund, die Folterkeller des Innenministeriums, immer vor Augen halten – damit man weiß, warum man für diese Freiheit gekämpft hat und weiter kämpfen muss."
Hatem El Hattab hat als einer der wenigen Tunesier den Elan der Revolution noch nicht verloren. Stolz zeigt er auf seinem Handy ein Video, auf dem zu sehen ist, wie er mit Kollegen am 14. Januar ein riesiges Plakat des Präsidenten abgerissen hat.
"Seine Schreibtische werden das alte Regime ins Gefängnis bringen." Platz für die Akten ist im Nationalarchiv auf jeden Fall genug. "Wir haben noch mehr als zehn Regalkilometer frei", versichert Hatem El Hattab lachend.
Sarah Mersch
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de