Die Bürger helfen sich selbst

Mit dem Wirtschaftskollaps bricht im Libanon auch das Gesundheitssystem zusammen. Viele Medikamente werden knapp oder sind unbezahlbar. Da der Staat ausfällt, helfen sich die Libanesen gegenseitig. Von Zeinab Othman aus Beirut

Von Zeinab Othman

Lange Zeit galt die Pharmazie im Libanon als ein attraktives Berufsfeld. Und tatsächlich: Eine Studie der Fachzeitschrift Human Resources for Health belegt, dass das Land die weltweit höchste Pro-Kopf-Rate an Apothekerinnen und Apothekern hat. Auf 10.000 Einwohner kommen im Durchschnitt 20 pharmazeutische Fachkräfte, im globalen Durchschnitt sind es nur fünf. Auch wenn diese Zahlen von vor vier Jahren stammen, weist nichts darauf hin, dass sich an diesem Bild viel verändert hätte.

Es kommt nicht von ungefähr, dass die Pharmazie im Libanon so stark ist: Lange Zeit war das Angebot von Medikamenten auf dem Markt riesig und wuchs sogar, um mit der immer größeren Nachfrage Schritt halten zu können. Doch dann standen die von einem Überfluss an Medikamenten verwöhnten Libanesinnen und Libanesen eines Tages in ihren Apotheken vor leeren Regalen.

Leere Regale und explodierende Preise

In den kleineren und größeren Apotheken der libanesischen Hauptstadt Beirut und im Umland zeigt sich den Kunden derselbe Anblick gähnender Leere. Auf den ersten Schock, der mittlerweile verdaut wurde, folgte die Erkenntnis, dass viele Medikamente überhaupt nicht mehr lieferbar sind. Obendrein sind die noch vorhandenen Medikamente für viele unerschwinglich, da sie in US-Dollar zu bezahlen sind. Die allermeisten Menschen im Libanon erhalten ihr Gehalt jedoch in der Landeswährung, der libanesischen Lira, deren Wert unaufhaltsam sinkt, Tag für Tag, Minute um Minute.



Im Stich gelassen von einem Staat, der es nicht geschafft hat, der Macht von Kartellen und Monopolen im Pharmasektor Einhalt zu gebieten, scheint es für die libanesische Bevölkerung nur durch solidarisches Handeln einen Weg aus der Krise zu geben. Durch die Initiative einzelner entstanden kreative Lösungen, die bekannt wurden und Kreise zogen; über die sozialen Medien konnten Menschen Medikamente tauschen; und sehr häufig wurden Verwandte und Freunde im Ausland gebeten, Arzneimittel zu besorgen. Zu den neu entstandenen Initiativen gehören etwa Meds for Lebanon und Medonations. Doch für alle Initiativen ist es nicht nicht leicht, Medikamente zu beschaffen.

Das Children's Cancer Center in Beirut; Foto: Goethe-Institut/Ruya, Zeinab Othman
Das Children’s Cancer Center in Beirut: Über die Jahre wurden hier mehr als 3500 Kinder behandelt und erhielten die Chance für ein neues Leben. Zu Beginn der Krise im Libanon verbreitete sich das Gerücht, die Klinik müsse schließen. Sie sei nicht mehr in der Lage die medizinische und psychologische Betreuung der Kinder zu gewährleisten, weil wichtige Medikamente nicht verfügbar wären und man sich nicht mehr in der Lage sah, die allseits gestiegenen Kosten – von Benzin über Strom bis hin zu Nahrungsmitteln – aufzufangen. Durch private Spenden konnte jedoch eine Schließung abgewendet werden. Vom libanesischen Staat ist keine Hilfe zu erwarten.



In einem ausführlichen Gespräch über die Medikamentenkrise bestätigt Manal Azhari Bashi, Personal- und Betriebsleiterin des Kinderkrebszentrums (Children’s Cancer Center) in Beirut, dass die Schwierigkeiten bei der Medikamentenversorgung sehr viel größer seien als sie zunächst erwartet hatte. Der Libanon sei "politisch und wirtschaftlich sehr instabil. Um an die notwendigen Medikamente zu kommen, braucht es sehr viel Einsatz und kreative Lösungen“.

Azhari Bashi zählt gleich eine ganze Reihe von Herausforderungen auf, die den Menschen das Leben schwer machten: Wirtschaftskrise, Inflation, fehlende Medikamente, die Corona-Pandemie, die Folgen der Hafenexplosion in Beirut. Viele Menschen hätten ihre Arbeit und somit ihre materielle Lebensgrundlage verloren, dazu kämen in die Höhe schießende Arzt- und Krankenhausrechnungen. Diese Rechnungen müssten häufig in harter Währung bezahlt werden, das gelte vor allem für Medikamente gegen unheilbare Krankheiten. Alle diese Faktoren würden auch die Arbeit des Kinderkrebszentrums enorm erschweren, das die jährlichen Kosten von etwa 15 Millionen Dollar kaum noch decken könne.

Ohne Spenden geht gar nichts

Bereits vor der Krise war das Kinderkrebszentrum auf Spenden – Direktspenden, Schenkungen, Sachspenden – angewiesen, um seine Arbeit leisten zu können. Die Spenden wurden im Rahmen verschiedener Fundraising-Programme eingesammelt, die jedoch in den zahlreichen Krisen des Libanon nicht wie gewohnt stattfinden können. So stellte in letzter Zeit die Anera-Stiftung den Großteil der Mittel zur Verfügung, um die "Behandlung von jährlich etwa 350 Kindern zu gewährleisten“.

Daneben verschob sich der Fokus beim Fundraising auf Internetkampagnen und Online-Spendenaufrufe. Die Verwaltungskosten der Kinderkrebsklinik wurden um 30 Prozent gesenkt. Dem steigenden Bedarf von Medikamenten bei gleichzeitigen Lieferengpässen begegnete das Zentrum mit einem unermüdlichem Einsatz und dem Versuch, die notwendigen medizinischen Mittel für die Behandlung der schwerkranken Kinder aus dem Ausland zu beziehen. Manchmal mussten Mitarbeiter ins Ausland reisen und noch am selben Tag mit Arzneimitteln zurückkehren.  Man hätte es sich nicht erlauben können, "bei der Behandlung auch nur eines Kindes in Verzug zu geraten. Auch wenn wir dafür harte Währung brauchten – und darin besteht die größte Herausforderung“.



Zu Beginn der Krise verbreitete sich das Gerücht, die Klinik müsse schließen. Sie sei nicht mehr in der Lage die medizinische und psychologische Betreuung der Kinder zu gewährleisten, weil wichtige Medikamente nicht verfügbar wären und man sich nicht mehr in der Lage sah, die allseits gestiegenen Kosten – von Benzin über Strom bis hin zu Nahrungsmitteln – aufzufangen.

In einer Apotheke in Beirut, Libanon; Foto: Goethe-Institut/Ruya, Zeinab Othman
In dieser Apotheke sind die Regale noch gut gefüllt. Doch in vielen kleineren und größeren Apotheken der libanesischen Hauptstadt Beirut und im Umland zeigt sich den Kunden derselbe Anblick gähnender Leere. Auf den ersten Schock, der mittlerweile verdaut wurde, folgte die Erkenntnis, dass viele Medikamente überhaupt nicht mehr lieferbar sind. Obendrein sind die noch vorhandenen Medikamente für viele unerschwinglich, da sie in US-Dollar zu bezahlen sind. Die allermeisten Menschen im Libanon erhalten ihr Gehalt jedoch in der Landeswährung, der libanesischen Lira, deren Wert unaufhaltsam sinkt, Tag für Tag, Minute um Minute.



Wenn man mit Azhari Bashis spricht, könnte man meinen, die Klinik sei einer Schließung damals gefährlich nahegekommen. Im Jahr 2020 gab es dann aber einen Rettungsfonds, der ihr in der allergrößten Not geholfen habe. Er sei die Antwort auf den Hilferuf der Klinik gewesen, die in der Bevölkerung großes Vertrauen genießt und die über die Jahre fast 3500 krebskranken Kindern die besten Behandlungsmöglichkeiten verschafft habe. "Dank des Zentrums und dank all der wohltätigen Spender erhielten diese Kinder die Chance auf ein neues Lebens“, betont Azhari Bashis.

Der Fonds sei wie ein Rettungsboot im Sturm gewesen, von der libanesischen Gesellschaft und den Libanesen in der Diaspora organisiert. Vom krisengeplagten Staat hingegen seien "in der gegenwärtigen Lage weder Hilfe noch ein Rettungsplan zu erwarten“. Auch weiterhin werde sich das Zentrum in erster Linie um die Unterstützung durch die Bevölkerung und die Auslandslibanesen bemühen. Auch suche man verstärkt den Kontakt zu Menschen aus anderen Ländern, die sich für die humanitäre Mission der Klinik interessieren. Bislang habe man schon Hilfe aus 46 Staaten erhalten.

Mit ebenso großem Engagement, aber weniger Möglichkeiten als beim gut etablierten Kinderkrebszentrum, arbeitet Marina el-Khawand mit Libanesen im Ausland zusammen, um mit ihrer Hilfe Medikamente für die Menschen im Libanon zu beschaffen. Wir trafen die Managerin von Medonations in ihrem bescheidenen Büro, wo man inmitten der vielen Taschen kaum einen Fuß vor den anderen setzen konnten. In den Taschen waren Unmengen von Arzneimitteln verstaut, die Auslandslibanesen geschickt hatten. Unter ihnen hat sich mittlerweile so etwas wie ein Solidaritätsnetzwerk für die von der Krise betroffenen Libanesen zuhause gebildet. Der junge Verein organisiert und überwacht die Verteilung der Medikamente. Obwohl er auf diese Weise schon vielen Menschen geholfen hat, sieht el-Khawand die Hauptverantwortung für die Beendigung der Krise beim libanesischen Staat.

Die Rolle der Apotheker

Auch Apotheker sind in der Krise aktiv geworden. In einer der großen Apotheken im Beiruter Viertel Tariq el-Jdideh treffen wir uns zum Gespräch mit Marwa al-Jamal, Mitglied im Vorstand der libanesischen Apothekergewerkschaft. Ihre Organisation habe die Problematik des Medikamentenmangels erfasst und sich dann für passende Lösungen eingesetzt, sagt sie. Während des Interviews kommt es in der Apotheke mehrmals zu Stromausfällen und immer wieder erscheinen Kunden, die sich wundern, dass Medikamente fehlen.





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Ist die digitale Gesundheitskarte die Lösung?

Im Gegensatz zu vielen ihrer Mitmenschen glaubt Marwa nicht an individuelle Lösungen für die Krise, sondern sieht die Antwort in der neuen digitalen Gesundheitskarte, mit der das libanesische Gesundheitsministerium die Versorgung mit subventionierten Medikamenten von der Fabrik bis zum Patienten nachverfolgen kann.

Gleichzeitig ist sie überzeugt, dass auch die Gewerkschaft einen Beitrag zum solidarischen Verhalten leisten und dazu beitragen kann, Lösungen zu finden. Dazu zählt sie die Unterstützung der lokalen pharmazeutischen Produktion, um den Bedarf an Importen zu verringern.

Joe Salloum, Vorsitzender der Apothekergewerkschaft im Libanon, meint, dass schon seit zwei Jahren gefordert werde, die Versorgung zu rationalisieren, indem man zumindest teilweise von Markenmedikamenten auf Generika umsteigt. Diese Forderung sei erst vor kurzem erfüllt worden und Apotheker könnten noch immer nicht ihre Regale auffüllen. Außerdem seien die Patienten aufgrund der Inflation trotzdem nicht in der Lage, die hohen Dollarpreise zu bezahlen. Auch Salloum sieht in der digitalen Gesundheitskarte den derzeit besten Lösungsansatz. Zur Deckung der Kosten des neuen Systems, erklärt er, sei eine "jährliche Finanzierung von bis zu 300 Millionen US-Dollar von der Weltbank erforderlich".

Das Prinzip funktioniert so, dass jedem libanesischen Bürger ein bestimmter Geldbetrag auf die Karte eingezahlt wird, mit dem er seine Medikamente in der Apotheke kaufen kann. Über ein Tracking-System kann man die Einkäufe nachverfolgen. So lassen sich Monopolen, das Horten von Medikamenten und Schmuggel verhindern und man kann kontrollieren, wem welche Menge an Medikamenten zur Verfügung steht“. Sein Vorschlag erscheint solidarisch und doch ist er an Bedingungen geknüpft, die ein großer Teil der libanesischen Bevölkerung vermutlich ablehnen würde. Denn die Weltbank und ihre Politik liegen im Libanon gar nicht hoch im Kurs.



"Man kann sagen, dass die digitale Gesundheitskarte auf kurze Sicht, also auf ein bis zwei Jahre, die einzige Lösung ist“, so Salloum. Doch noch immer gibt es zum neuen Kartensystem viele unbeantwortete Fragen: Werden auch Nicht-Libanesen, darunter die etwa 1,5 Millionen syrischen Geflüchteten im Land davon profitieren können? Welche Medikamente wird man über die Karte abrechnen lassen können, angesichts einer angekündigten Kategorisierung nach Arten von Krankheiten? Auch Salloum sieht, dass die Gesundheitskarte ihre Grenzen hat. Sie sei aber vor allem ein Instrument, mit dem man die Zeit bis "zum Ende der Dollarkrise und bis sich der Preis der Währung auf dem Markt normalisiert hat, überbrücken kann“. Mit diesen Aussichten wären viele pessimistische Libanesen, die derzeit ums Überleben kämpfen, sicherlich nicht zufrieden.



Dies bringt uns zum Anfang des Artikels zurück: Libanesinnen und Libanesen haben es mit einer weiteren Krise inmitten der Krise zu tun. Wie werden sie die hohen Kosten zahlen können, wenn Medikamente wieder verfügbar sind? Auf kurze Sicht und nach Meinung vieler Betroffener – Fachkräften des Gesundheitssystems wie auch Patienten – scheint es, als bliebe ihnen derzeit keine andere Wahl, als sich gegenseitig zu unterstützen. Diese Solidarität der Bürgerinnen und Bürger scheint der einzige Weg aus der Krise zu sein, solange kein verlässliches und sicheres Gesundheitssystem existiert, das einem modernen Staat gerecht wird.



Zeinab Othman



© Goethe-Institut/Ruya 2022

Zeinab Othman ist eine libanesische Journalistin, die sich auf Gesundheitspolitik und Menschenrechte spezialisiert hat.

Übersetzung: Jana Duman