Neuer Anstrich, alte Gebrechen

Pakete mit Drogen, die entdeckt wurden, von Menschen umzingelt
Der Captagon-Handel ist zurückgegangen, aber nicht zum Erliegen gekommen: Verbrennung von Pillen in Damaskus, Januar 2020 (Foto: Picture Alliance/Anadolu/H. Hac Omer)

Im Krieg stark gewachsen, floriert auch im neuen Syrien die informelle Wirtschaft. Sexarbeiter*innen und Drogenbosse haben sich auf die neuen Bedingungen eingestellt. Der teils rechtsfreie Raum schreckt notwendige Investoren ab.

Von Ahmed Mohamed

Abends um neun Uhr lenke ich mein Auto langsam auf die Fayez-Mansour, die Schnellstraße, an der junge Prostituierte einst ihre Körper anboten. Seit dem Sturz von Assad ist von dieser Szene nicht mehr viel übrig, so wie auch der Handel mit der Aufputschdroge Captagon deutlich abgenommen hat. 

Auf der anderen Seite von Damaskus boomt dafür das Geschäft der Geldwechsler. Nachdem sie jahrelang im Verborgenen gearbeitet haben, können sie seit dem Zusammenbruch des Assad-Regimes im Dezember 2024 endlich wieder offen mit Fremdwährungen handeln.

Prostitution, Captagon und Geld: In Zeiten des Bürgerkriegs und unter dem diktatorischen Regime der Assad-Familie waren das die Grundpfeiler einer inoffiziellen Wirtschaft, die 2023 noch mehr als siebzig Prozent des syrischen Inlandsprodukts ausmachte. Wer heute über die Straßen von Damaskus geht, mag denken, dass diese Zeiten vorbei sind. Jeder, der genauer hinschaut, merkt jedoch schnell: Ganz so einfach ist es nicht. 

Natürlich ist die syrische Parallelwirtschaft gerade in Kriegszeiten aufgeblüht. Das zeigt sich am Beispiel der Prostitution. Durch den akuten Mangel an männlicher Arbeitskraft traten schon zu Beginn des Bürgerkriegs viele Frauen in den Arbeitsmarkt ein. 

Da es an gesetzlichem Schutz und Kontrolle fehlte, wurde ein Teil von ihnen jedoch schnell in den informellen Sektor gedrängt, sei es durch Nötigung oder wirtschaftlichen Druck. Gerade die Prostitution, die in Syrien ein Verbrechen darstellt, nahm über die Jahre rapide zu. 

Nach Angaben des Gemeinsamen Programms der Vereinten Nationen für HIV/Aids (UNAIDS) betrug die Zahl der syrischen Sexarbeiterinnen und -arbeiter im Jahr 2016 noch rund 25.000. Nur fünf Jahre später verzeichneten NGOs in Syrien bereits einen Anstieg um sechzig Prozent.

Sana*, 24 Jahre alt, ist eine dieser Sexarbeiterinnen. Vor dem Sturz des Assad-Regimes arbeitete sie mit fünf weiteren Mädchen in einem Haus im Isch-al-Werwer-Viertel in Damaskus, damals im Auftrag von „Abu Fathi“, einem hochrangigen Mitarbeiter des syrischen Sicherheitsapparates. Er fuhr die Mädchen durch die Stadt, sorgte für ihre Sicherheit und vermittelte sie an Kunden. 

Im Gegenzug strich er bis zu siebzig Prozent ihrer Löhne ein, die zwischen 33 und 100 US-Dollar schwankten. Einen Teil des Geldes leitete Abu Fathi später an eine höhere Dienststelle weiter. Die Prostitutionsnetzwerke wurden mitunter von Offizieren des Luftwaffengeheimdienstes kontrolliert und gesteuert.

Mädchen mit langen roten Haaren sitzt in einem Zimmer
Versteckte sich nach dem Sturz zunächst in ihrer Wohnung, kehrte dann zur Arbeit zurück: Sana, 24 Jahre alt (Foto: Ahmed Mohamed)

Mit dem Fall des Assad-Regimes ist diese Hierarchie zusammengebrochen. Abu Fathi und seine Hintermänner sind verschwunden, der Nachtclub, in dem Sanas Kollegin Du’a einst gearbeitet hat, ist offiziell geschlossen worden – und die Mitglieder der Assad-treuen “Schabbiha”-Milizen sowie viele Angehörige wohlhabender Familien zählen nicht mehr zu ihren Kunden. Sie sind nach wie vor zögerlich, sich in dem Milieu zu zeigen.

Für rund zwei Wochen galt das Ende 2024 auch für Sana. Nach dem Sturz des Regimes versteckte sie sich in ihrer Wohnung, weil sie nicht wusste, wie sich das Leben auf der Straße verändern würde. Doch dann kehrte sie schrittweise zu ihrer Arbeit zurück – in unauffälligerer Kleidung. Ähnlich ist es auch mit vielen ihrer Kolleginnen: Sie arbeiten weiter, aber sie stehen nicht mehr jeden Tag an der Fayez-Mansour. 

So auch die 38-jährige Rawiya*, die sich inzwischen komplett auf die digitale Kommunikation mit ihren Kunden verlegt hat, um die Risiken der Öffentlichkeit zu vermeiden. Früher pflegte sie gute Beziehungen zum Sicherheitsapparat. Ein Beamter bot ihr im Gegenzug für sexuelle Gefälligkeiten einen gewissen Schutz. Heute ist das anders. Aber: Weitergehen muss das Geschäft trotzdem, auch wenn es sich verändert hat – und unsicherer scheint. 

Der Captagon-Markt boomt weiter

Ähnlich ist es mit dem Drogenhandel. Videoaufnahmen zeigen eine verlassene Villa in einem ruhigen Viertel von Damaskus, in der über Jahre ein Labor zur Herstellung von Captagon versteckt war. Der Boden ist übersät mit weißen Pillen und verschiedenen Geräten zur Herstellung und Analyse des Aufputschmittels. 

Andere Aufnahmen, die nach dem Sturz des Regimes aufgenommen wurden, zeigen, dass gewaltige Mengen des sogenannten „Kokains der Armen“ im Besitz der syrischen Armee waren. Unter Baschar al-Assad entwickelte sich Syrien zu einem regionalen Zentrum für die Produktion und den Export von Captagon – unter seiner Schirmherrschaft florierte die Branche. 

Laut Berichten des US-amerikanischen Newlines Institute for Strategy and Policy und der britischen Regierung war Syrien für rund 80 Prozent der weltweiten Captagon-Produktion verantwortlich. Für das Jahr 2023 schätzte die Weltbank den jährlichen Handelswert der Substanz, die über internationale Netzwerke auch ins Ausland geschmuggelt wird, innerhalb Syriens auf 1,9 bis 5,6 Milliarden US-Dollar. Sollte diese Annäherung stimmen, hätte der Drogenhandel damals sämtliche legalen Exporte des Landes in den Schatten gestellt.

Nach seiner Machtübernahme kündigte der neue syrische Präsident Ahmed al-Scharaa eine Kampagne zur Säuberung des Landes von der Droge an. In diesem Zuge ging der Captagonhandel innerhalb Syriens auch spürbar zurück. Gänzlich zum Erliegen kam er allerdings nicht.

Eine Straße in Damaskus, Syrien, mit Gebäuden bei Sonnenuntergang.
Captagon gibt's jetzt online zu kaufen, nicht mehr wie früher direkt auf den Straßen Syriens. (Foto: Ahmed Mohamed)

„Es wird immer noch verkauft“, sagt der 29-jährige Imad* aus der Stadt Jaramana, südlich von Damaskus. Der Preis pro Tablette liege in der Hauptstadt unverändert bei etwa einem halben US-Dollar – und die Produktion der Tabletten finde weiterhin an verschiedenen Orten in Syrien sowie im Libanon statt. Der einzige Unterschied zu früher: Viele Händler und Lieferanten seien inzwischen ins Internet abgewandert. 

Auch das GIGA-Institut für Nahost-Studien geht davon aus, dass die Drogennetzwerke in Syrien nicht zerstört sind, sondern nur zersplittert wurden. Die Produktionsmittel und das Knowhow existieren weiter – und neue Akteure, insbesondere im Libanon, versorgen den boomenden Markt in der Region noch immer, oft aus Kleinstlaboren. 

Ein Beleg für diese Annahme: Erst im Mai 2025 meldeten irakische Behörden die Sicherstellung von über einer Tonne geschmuggelter Captagon-Tabletten, die über die Türkei aus Syrien eingeführt worden waren. Es war die größte derartige Operation seit dem Sturz Assads. 

Geld wechseln ohne staatliche Aufsicht

Das Bild auf der Straße hat sich verändert, aber der Handel geht weiter. Diese Beobachtung trifft auch auf den dritten Pfeiler der informellen syrischen Wirtschaft zu, den Geldwechselmarkt. Dieser wurde unter Baschar al-Assad durch verdeckte Steuern kontrolliert, wie viele Geldwechsler in Damaskus berichten. 

„Das Regime knöpfte uns bis zu dreißig Prozent unserer Gewinne ab, und wir wurden regelmäßig von den Sicherheitskräften festgenommen oder erpresst“, erzählt einer von ihnen. Heute sei das anders: „Es gibt jetzt mehr Sicherheit, aber auch weniger zu tun.” 

Nach dem Sturz des Regimes hat sich das Geschäft der Geldwechsler von den Gassen und Straßenecken in nicht lizenzierte Ladenlokale verlagert, wo Tauschgeschäfte jetzt zwar offen, aber weiterhin ohne Aufsicht abgewickelt werden. 

Die syrische Zentralbank hat mehrfach versucht, strenge Lizenzierungsbedingungen einzuführen. Durchgesetzt hat sie sich damit aber nicht. Zu viele Syrerinnen und Syrer betrachten die Einmischung des Staates in den Markt als eine Fortsetzung der alten Politik. 

Für sie ist der informelle Geldwechselmarkt ein Gegengewicht zum Machtmonopol des Staats. Dass Syrien, dessen formelle Wirtschaft weiterhin komplett am Boden liegt, dadurch auf wichtige Einnahmen verzichten muss, geht in der Diskussion oft unter.

Sei es die Prostitution, der Drogen- oder der Geldhandel: In all diesen Bereichen zeigt sich, dass die informelle syrische Wirtschaft auch nach dem Sturz von Assad weiter floriert. In Damaskus treffen lebensnotwendige Grundbedürfnisse auf alte und neue Netzwerke der Macht. Sie mögen zersplittert sein, aber wegzudenken sind sie auch aus dem neuen Syrien kaum. Insbesondere, weil es weiter an Anreizen für geregelte Arbeit fehlt. 

Zwar sind die Produktionskosten in Syrien im Vergleich zu den Nachbarländern zuletzt rapide gesunken und die neuen Behörden haben weitreichende Steuererleichterungen beschlossen. Trotzdem zögern Investoren weiterhin, in den formellen Markt einzusteigen. 

Viele scheinen zu ahnen, dass das Land zwar einen anderen Anstrich hat, aber trotzdem an alten Gebrechen leidet. An der schwachen rechtlichen Infrastruktur, der fehlenden staatlichen Unterstützung für die lokale Industrie und der tiefen Verwurzelung des informellen Sektors hat sich kaum etwas geändert.

 

* Name aus Sicherheitsgründen geändert. 

 

Mitarbeit: Kai Schnier. Aus dem Arabischen von Leonie Nückell.

 

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