Zweideutige Ambitionen
Da die Judikative verschiedene Militärcoups unterstützte, ist es unmöglich, Pakistans politische Geschichte und seine Entwicklung als Nation von der Rolle der rechtsprechenden Gewalt zu trennen. Seit den 1950er Jahren schwankte Pakistan zwischen demokratischer und militärischer Herrschaft. Es wurde von drei Militärdiktatoren regiert: General Ayub Khan (1958–1968), General Zia-ul-Haq (1977–1988) und General Parvez Musharraf (1999–2008).
Jedes Mal stützten sich die Militärmachthaber auf den Obersten Gerichtshof, die höchste juristische Instanz des Landes. Es war seine Aufgabe, die verfassungswidrige Machtübernahme zu rechtfertigen oder den Putschisten konstitutionellen Schutz zu gewähren. Er legitimierte die Aufhebung der Verfassung (im Fall von Ayub Khan) oder gestand den Putschisten die Macht zu, die Verfassung außer Kraft zu setzen oder zu ändern (im Fall von Zia und Musharraf). Iftikhar Chaudhry, derzeit Pakistans Oberster Richter, gehörte zu jenen Richtern, die den Putsch Musharrafs im Jahr 2000 für verfassungskonform erklärten.
Die Judikative ist für solche Entgleisungen kritisiert worden. Allerdings waren viele gewählte Politiker auch keine demokratischen Vorbilder. Das über Jahrzehnte andauernde demokratische Zwischenspiel vor dem Musharraf-Coup war von schlechter Amtsführung gekennzeichnet– durch Korruption und anhaltende Gesetzlosigkeit. Das gilt gleichermaßen für die zivile Regierung unter Präsident Asif Ali Zardari, der 2008 Musharraf an der Staatsspitze ablöste. Zuweilen scheinen Medien und Interessensgruppen diese Probleme zu übertreiben, aber es gibt keinen Zweifel daran, dass schlechte Regierungsführung die Demokratisierung Pakistans belastet.
Einmischungen in die Regierungsführung
2005 wurde Chaudhry Oberster Richter und änderte seine Haltung zum Musharraf-Regime. Unter ihm begann der Oberste Gerichtshof direkt in die Regierungsgeschäfte einzugreifen. Menschenrechtsorganisationen, zivilgesellschaftliche Gruppen, die Medien und die juristische Fachwelt begrüßten diese aktive Haltung. Unter der Leitung Chaudhrys berücksichtigte der Oberste Gerichtshof Menschenrechtsbelange und nahm deutlich mehr Verfahren auf, die in seine "ursprüngliche Zuständigkeit" fallen. Dazu zählt auch die richterliche Durchsetzung verfassungsgemäßer Grundrechte.
Fachleute sprechen auch von einer "Rechtsprechung in öffentlichem Interesse". Im Kern dieser Rechtsprechung geht es vor allem darum, armen und benachteiligten Klägern direkten Zugang zur Justiz zu gewähren. Dafür kann das Oberste Gericht aus eigenem Antrieb Ermittlungen aufnehmen und Verfahrensregeln lockern.
Vieldeutig: Pakistans "Rechtsprechung im öffentlichen Interesse"
Das Oberste Gericht nahm erstmals in den späten 1980er Jahren derartige Verfahren auf. Er nutzte sie als Instrument, um seine Legitimation nach der Militärherrschaft wiederherzustellen und um neues Vertrauen zu gewinnen, indem er Recht für Normalbürger sprach. Ähnlich hat auch Indiens Oberstes Gericht in den frühen 1980er Jahren jene "Rechtsprechung im öffentlichen Interesse" genutzt, um sein Image aufzubessern, das während der Notstandsregierung unter Indira Gandhi Mitte der 1970er Jahre gelitten hatte.
In Pakistan nahm die Rechtsprechung im öffentlichen Interesse in den ersten sechs Jahren unter Musharraf deutlich ab. Nachdem jedoch Chaudhry Oberster Richter wurde, gewann diese Form der Jurisdiktion wieder an Fahrt. Chaudry agierte großzügig nach dem "Suo motu"-Prinzip, das Richtern erlaubt, aus eigenem Ermessen aktiv zu werden, und ermunterte andere Richter, das auch zu tun. Das Obereste Gericht nahm also Verfahren auf, ohne dass er von einer externen Partei dazu aufgefordert wurde. Der Oberste Gerichtshof ermächtigte sich also selbst, Fälle auszusuchen, Schwerpunkte zu setzen und juristisch einzugreifen, wie es ihm gefiel.
Ab 2007 begann Musharraf den Obersten Gerichtshof als Bedrohung für sein Regimes zu sehen, so dass der Autokrat Chaudhry seines Postens entledigen wollte. Sein erster Versuch scheiterte im März 2007 aufgrund massenhafter Proteste von Juristen und politischen Parteien, die "Lawyers Movement" genannt wurde. Sein zweiter Versuch im November 2007 war zwar erfolgreicher, jedoch konnte er die Protestbewegung nicht unterdrücken. Chaudhry wurde 2009 wieder in sein Amt eingesetzt. Zu diesem Zeitpunkt hatte Musharraf die Macht schon an eine gewählte Zivilregierung unter Zardari abgegeben.
Gewachsenes Selbstbewusstsein
Seither ist das Oberste Gericht immer aktiver geworden. Es greift nicht nur in Angelegenheiten ein, die die Menschenrechte, die öffentliche Grundordnung und die Regierungsführung betreffen, sondern es mischt sich auch unmittelbar in die Politik ein. Diese Entwicklung beeinträchtigt den Demokratisierungsprozess und die Gesetzgebung. Das Oberste Gericht muss zwar die Grundrechte schützen, es muss aber auch Exekutive und Legislative ihre Arbeit machen lassen.
Der Oberste Richter und andere Richter des "Supreme Courts" sind der Ansicht, sie seien die wahren Hüter von Verfassung und Demokratie in Pakistan. Dementsprechend sollen sich alle anderen Institutionen praktisch ohne Einschränkung ihrer Kontrolle und ihrem "Suo-motu"-Anspruch unterordnen. Vielleicht hat die beispiellose Unterstützung der "Lawyers Movement" dieses Selbstbewusstsein genährt.
Wie dem auch sei, heute wenden sich die meisten Rechtsanwälte, Politiker und Intellektuellen gegen die Maßlosigkeit des Obersten Gerichts. Einige hochpolitische Entscheidungen der vergangenen vier Jahre zeigen den beunruhigenden Trend auf, dass Richter über ihre juristische Kompetenz hinaus Urteile fällen. Grob vereinfacht gibt es drei Kategorien solcher Fälle. Der Oberste Gerichtshof hat:
Erstens die rechtmäßigen Befugnisse anderer staatlicher Gewalten eingeschränkt und sich selbst von konstitutionellen Kontrollen ausgenommen,
Zweitens gewählte Politiker mit dubiosen Mitteln aus dem Amt entfernt und
Drittens versucht Rechenschaftspflicht zu erzwingen, wo die Exekutive Entscheidungsfreiheit haben muss.
Selbsternannte Richter
Exzesse der ersten Kategorie bedeuten, dass sich die Judikative direkt in Vollmachten einmischt, die die Verfassung ausschließlich gewählten Volksvertretern zugesteht. So kann etwa das Parlament mit Zweidrittelmehrheit die Verfassung ändern. Das ist die höchste Form legislativen Handelns in einer Demokratie. Dafür muss sich die Regierungspartei in der Regel mit anderen Parteien einig werden. 2010 hat das Oberste Gericht trotzdem eine Korrektur der 18. Verfassungsänderung verlangt. Es argumentierte, dies sei nötig, um die Unabhängigkeit der Justiz zu wahren. Um eine Konflikt mit dem Obersten Gericht zu vermeiden, nahm das Parlament diese Änderungen mit dem 19. Amendment vor.
Das Oberste Gericht hat somit das exklusive Recht des Parlaments auf Verfassungsänderungen ausgehebelt. Obendrein gelang es dem Gericht, die Judikative in einer Reihe von Urteilen praktisch von jeglicher konstitutionellen Kontrolle abzuschirmen.
Das 18. Amendment sollte die Gewaltenteilung in Pakistan wieder ins Lot bringen. Es schränkte die Macht des Präsidenten ein und stärkte die Legislative. Ein Aspekt war, die Richterberufung transparenter zu gestalten und eine breite gesellschaftliche Beteiligung hieran zu ermöglichen. Das sollte ein zweistufiges Prozedere leisten, das viele Akteure einbezog – Richter, Regierungsvertreter, Organisationen von Rechtsanwälten sowie Parlamentsabgeordnte von Regierung und Opposition.
Der Oberste Gerichtshof sprach aber Parlamentsmitgliedern bei der Richterberufung das Mitspracherecht ab. Das ist ungewöhnlich, weil Abgeordnete durch Wahlen legitimiert sind. Überdies spielt die Legislative bei der Richterberufung in vielen Ländern eine Rolle – beispielsweise in den USA und in Deutschland. In Pakistan hat heute der Oberste Gerichtshof praktisch die ausschließliche Kontrolle über die Berufung von Richtern.
Absetzung gewählter Politiker
In der zweiten Kategorie geht es darum, dass die Justiz gewählte Volksvertreter aus dem Amt entfernt. Das Oberste Gericht pocht dabei auf die Einhaltung seiner Urteile, die in direktem Konflikt zu rechtmäßigen politischen Entscheidungen stehen.
Der prominenteste Fall war die Amtsenthebung von Premierminister Yousaf Gillani. Das oberste Gericht verurteilte ihn 2010 wegen Missachtung des Gerichts und schloss ihn rückwirkend aus dem Parlament aus. Da der Premierminister aber Parlamentsmitglied sein muss, konnte Gillani nicht weiter im Amt bleiben.
Der Oberst Gerichtshof erklärte Gillani für schuldig, weil er sich weigerte, dem Beschluss des Gerichts Folge zu leisten, die Schweizer Regierung um die Wiederaufnahme des Korruptionsverfahrens gegen Präsident Zardari zu bitten. Das Gericht verursachte dadurch eine Verfassungskrise, die das Land über Monate in Atem hielt. Es setzte sich im Grunde über das Vorrecht des Volkes hinweg, demokratisch legitime Vertreter durch Wahlen aus dem Amt zu entfernen. Der Fall war besonders irritierend, weil der Oberste Gerichtshof eigentlich den Präsidenten und nicht den Premierminister belangen wollte. Gillani hätte es beinahe als erster Premierminister geschafft, eine ganze Legislaturperiode im Amt zu bleiben.
Pakistans "Memogate"
Die dritte Kategorie umfasst juristische Interventionen, um Mitgliedern der Exekutive eine Rechenschaftspflicht in Angelegenheiten abzuverlangen, die in ihrem Machtbereich und ihrer Entscheidungsfreiheit liegen müssen. Die Affäre, die als "Memogate" bekannt wurde, ist das herausragendste Beispiel.
Ende 2011schaltete sich der Oberste Gerichtshofs wegen einer Kolumne in der Financial Times ein, wonach ein Vertreter Pakistans im Auftrag von Präsident Zardari dem US-Militär ein "Memo" übergeben haben soll. Darin sei die US-Regierung um Unterstützung beim Aufbau eines neuen nationalen Sicherheitsteams gebeten worden, was die bestehende Macht der pakistanischen Armee und der Geheimdienste untergraben hätte. Angeblich war das Motiv für dieses "Memo", einen weiteren Militärcoups zu verhindern, der nach dem US-Angriff auf Osama bin Laden kurz zuvor möglich schien.
Das war eine rein politische Angelegenheit ohne verfassungsrechtliche Implikationen. Es wurde auch kein Grundrecht verletzt. Trotzdem hatte sich der Oberste Gerichtshof der Sache angenommen, weil er ein potenzielles Risiko für die nationale Sicherheit zu erkennen glaubte. In seiner Verfolgung des mutmaßlichen Autors des "Memos", Hussain Haqqani, dem damaligen pakistanischen Botschafter in Washington, griff das Gericht Stimmungsberichte der Medien auf, die behaupteten, hochrangige Vertreter der Zivilregierung seien in staatsfeindliche Aktivitäten involviert.
Der "Memogate"-Fall ist bis heute nicht beendet. Der Oberste Gerichtshof fordert weiterhin, die Regierung solle Haqqani zur Rückkehr aus den USA nach Pakistan bewegen. Indem sich das Gericht für eine politische Angelegenheit als zuständig erklärt, hat es den gängigen administrativen Prozess zum Skandal erklärt. Zugleich hat es die Macht der Regierung gegenüber untergeordneten und nicht gewählten Institutionen wie dem Militär und dem Geheimdienst untergraben. Das widerspricht zweifelsohne jeglicher demokratischer Rechenschaftspflicht.
All diese Entscheidungen haben gemein, dass der Oberste Gerichtshof seine Befugnisse hinsichtlich der Rechtsprechung im öffentlichen Interesse großzügig interpretiert. Das Gericht hat problematische Präzedenzfälle geschaffen, indem er sich in rein politische Fragen eingemischt hat. Dabei hat er entweder die Auslegung des "öffentlichen Interesses" stark erweitert oder den Grundrechte-Katalog recht frei aus dem Stehgreif interpretiert. Es fällt auch auf, dass das Gericht stets der Frage auswich, ob es denn bislang überhaupt einen Anlass für ein juristisches Eingreifen gegeben hat.
Derweil hält sich der Oberste Gerichtshof an seine Präzedenzfälle und behauptet, ohne Letztere könne es keine Demokratie geben. Aber die hier ausgeführten Beispiele belegen, dass die Auffassung des Gerichts bezüglich der Unabhängigkeit der Justiz nicht zu einer demokratischen Regierungsführung passt. Bedauerlicherweise hält der unheilvolle politische Wettbewerb zwischen Judikative und Exekutive in Pakistan bis heute an.
Maryam S. Khan
© Zeitschrift für Entwicklung und Zusammenarbeit 2013
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de