Kunst statt Kino
Geschätzte 20.000 Menschen drängelten sich am Abend des 6. Juni 2015 vor dem Kulturzentrum der indonesischen Stadt Jogjakarta. Dabei warteten sie nicht etwa auf einen berühmten Popstar oder einen wichtigen Politiker. Sie standen stundenlang vor einer grün bepflanzten Riesenkugel aus Stahl an, um dahinter einen Blick auf die größte zeitgenössische Kunstausstellung des Landes zu erhaschen.
"Infinity in Flux" – so lautete das Motto der diesjährigen Ausstellung. Zu den Fluxus-Künstlern gehörten unter anderen Joseph Beuys und Christo sowie Yoko Ono, deren Werk bei der diesjährigen "Artjog" eine besondere Präsentation zuteil wird, darunter Teile ihrer "Imagine Peace"-Artefakte.
Der berühmte "Wish Tree" der John-Lennon-Witwe begrüßt die Zuschauer gleich unter der bewässerten, grünen Eingangskuppel, die das indonesische Künstlerduo "Indieguerillas" geschaffen hat. Schulmädchen in Uniformen drängen sich hier genauso wie ältere Herrschaften, um ihre persönlichen Hoffnungen auf Zettel zu schreiben und an den Wunschbaum zu hängen – so viele, dass die Veranstalter jeden Abend zwei große Säcke voll Papierschnipsel einsammeln.
Dem Motto entsprechend sind in diesem Jahr fast ausschließlich interdisziplinäre und multimediale Werke zu sehen – viele davon mit interaktiven Elementen. Etwa der "Choir of Chaos" von Eko Nugroho: Auf einem fahrradbetriebenen, karussellähnlichen Spielgerät sitzen vier Kinder nicht – wie sonst in den Dörfern üblich – auf bunten Tierfiguren, sondern auf abgeschlagenen Armen, die Säbel schwingen.
"Reite auf deiner Moral"
Im Video trägt der Fahrer des knallpink und hellblau bemalten Gebildes eine weiße Horrormaske. Dennoch winken die Kinder fröhlich in die Kamera. "Reite auf deiner Moral" steht vorne auf dem gruseligen Kinderspielzeug. Im Ausstellungsraum hängen darüber Vogelkäfige bedeckt mit tintenbefleckten Flaggen aller Herren Länder. Der Chor des Chaos entstehe, wenn alle Länder laut "Krieg, Rassismus und Angst" schreien, während sie zugleich um die größte Aufmerksamkeit und somit die beste Position rangeln, so die Erklärung des Künstlers.
Eine in Indonesien ebenso brisante Gesellschaftskritik präsentiert das Kollektiv "Prison Art Programs" mit "Atas Nama Daun" (Im Namen des Blattes). Der weiße Raum voller getrockneter Blätter hinter Glas erscheint auf den ersten Blick harmlos, mit Ausnahme des Kontrollpunkts am Eingang. "Was soll das bedeuten?" fragt eine junge Frau in Stretchjeans und modischem Kopftuch, die sich neugierig umschaut. "Wir mögen Blätter", erklärt ein Mann im Laborkittel. "Besonders Hanfblätter. Wir zeigen, dass es sich um ganz normale Pflanzenteile handelt, nicht um gefährliche chemische Drogen aus dem Labor."
Die junge Frau schaut den gepflegt aussehenden Hanfliebhaber erstaunt an: "Waren Sie..." Grinsend ergänzt er, dass er wegen Haschgenusses bereits im Gefängnis saß – in Indonesien ein Verbrechen. Dass er mittlerweile aus Sicherheitsgründen nicht mehr kiffen würde, sich aber dennoch keiner Schuld bewusst sei. Und dass er andere Drogen zwar nicht gutheiße, aber dennoch absolut gegen die Todesstrafe sei, die Indonesiens Regierung gerade wieder so brutal gegen Drogenkriminelle anwenden würde. "Wie spannend", bemerkt die Besucherin und tritt den Rückzug an.
Eine sozialkritische und hochprofessionelle Ausstellung
"Ich mag direkte Messages: Nur so kann man ein breiteres Publikum erreichen. Wer sich noch nicht mit Selfie auf Facebook, Instagram und Co. verewigt hat, ist nicht up-to-date. Doch es bleibt immer auch etwas hängen – es gibt viele Aha-Momente, wenn den Besuchern klar wird, was alles zu Kunst werden kann, etwa Videospiele oder Haushaltsgegenstände."
Oder Baugeräte: Installationskünstler Eddi Prabandonos Werk "Membangun Pangan" (Essen bauen) zeigt einen Betonmischer zwischen Dutzenden von Tellern, auf denen junge Reispflänzchen wachsen. Eine Digitalanzeige an der Wand fordert die Besucher auf, eine Handynummer zu wählen – bei Misscall setzt sich der Betonmischer dröhnend in Gang. Ein ziemlich direkter Hinweis auf die korrumpierte Bauwut, die in den letzten Jahren rund um Jogjakarta unzählige Hektar Anbauflächen in Hotels und Wohnanlagen verwandelt hat, während die Brunnen der Anwohner austrocknen.
So sozialkritisch und hochprofessionell, wie sich die "Artjog" heute präsentiert, war sie nicht immer. Zum ersten Mal veranstaltete Initiator Heri Pemad die "Jogja Art Fair" im Juli 2008 im Rahmen des städtischen Kulturfestivals. Damals durfte jeder mitmachen, der wollte, es gab kein klares Konzept, dafür umso mehr Kritik. "Es ging mir darum, Künstlern und Werken eine Chance zu geben, die bislang nicht in Galerien präsentiert wurden. In unserem Land gibt es dafür keine Infrastruktur und die Regierung bietet keinerlei Unterstützung", so der Kunstmanager. "Ich habe aber schnell gemerkt, dass wir selektieren müssen, also eröffnete 2009 die erste kuratierte Kunstmesse, die 2010 in 'Artjog' umbenannt wurde."
Den kommerziellen Charakter der Ausstellung findet Pemad, der selbst Malerei studiert hat, keineswegs bedenklich, weil die Transaktionen hier direkt mit den Künstlern abgewickelt würden, nicht über Agenten oder Galeristen. Bambang Witjaksono, der die "Artjog" bereits viermal kuratiert hat, erkennt sogar eine Chance im professionellen Finanzmanagement der Ausstellung, die hinsichtlich Raumgestaltung und technischer Ausstattung im eigenen Land konkurrenzlos ist.
Im Blickfang internationaler Kuratoren
Dementsprechend groß sei die Aufmerksamkeit internationaler Kuratoren und Kollektoren und somit die Verkaufschancen. Von offizieller Seite gibt es allerdings wenig Anerkennung: "Jedes Jahr laden wir alle wichtigen Regierungsvertreter der Region ein, doch bislang ist nie einer erschienen", erklärt Witjaksono.
Auch die kritische Haltung in Teilen der Kunstszene hält sich – vor allem das für Indonesien sehr hohe Eintrittsgeld von umgerechnet 3,30 Euro sorgt für Protest. "Die Besucher sollen verstehen lernen, dass Kunst ihren Wert hat", so Veranstalter Heri Pemad. "Wir bieten den Besuchern ja auch etwas für ihr Geld: ein aufwendiges Happening, das im Unterhaltungswert einer Theateraufführung nicht nachsteht."
Tatsächlich schreckt der Preis die Massen nicht ab: Selbst unter der Woche besuchen täglich 1.500 bis 2.000 Zuschauer die Ausstellung. Die Oberschüler Zaky und Sina waren sogar schon zweimal da. "Ja, es ist teuer, aber wir halten uns hier auch länger auf als zum Beispiel in einem Kinofilm, für den wir genauso viel bezahlen", so die 17-jährige Sina.
Wie ihr gleichaltriger Freund will sie Medizin studieren. Ihr Interesse für Kunst hat sie auf der letzten "Artjog" entdeckt: Sie war überrascht, wie viele neue Ideen sie dort sammeln konnte. Nun steht das Pärchen staunend vor dem Mixed-Media-Werk "The Chorus Offering Compliments" von Setulegi. Vier Bilder in einem kreisrunden Raum zeigen den Künstler in verschiedenen islamischen Gebetshaltungen, er hat einen nackten Oberkörper, auf dem Kopf eine traditionelle javanische Kopfbedeckung. Einmal hängt sein Kopf im Rauch eines ausbrechenden Vulkans, einmal kniet er vor den Stümpfen gerodeter Bäume.
Am besten gefällt dem Pärchen jedoch der Part, in dem der Betende von unzähligen digitalen App-Symbolen umgeben ist. "Das macht mich nachdenklich. Er betet zu Allah, doch in seinen Gedanken scheint sich alles nur um digitale Kommunikation zu drehen", bemerkt die junge Muslima. Und prompt steckt sie ihr Smartphone in den dazugehörigen Verlängerungsstab, postiert sich samt Freund vor dem Bild und verewigt sich für die digitale Welt. Ein voller Erfolg im Sinne der Fluxus-Bewegung.
Christina Schott
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