Der Westen am Pranger
Einige türkische Bürger zeigen sich enttäuscht über die Tatsache, dass die sogenannte Operation Friedensquell ihres Präsidenten Erdoğan im Westen wie in der Arabischen Liga als Aggressionsakt wahrgenommen wird und als Invasion gilt. Handelt es sich in ihren Augen doch um eine zwingend notwendige Anti-Terror-Maßnahme.
Die türkische Armee marschierte am 9. Oktober unterstützt von syrischen Rebellengruppen in Nordsyrien ein. Erklärtes Ziel war die Errichtung einer "Pufferzone", die Vertreibung der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) aus der Grenzregion und die Umsiedlung von Millionen syrischer Flüchtlinge aus der Türkei dorthin. Acht Tage nach Beginn der Offensive wurde eine Waffenruhe ausgehandelt. Die Operation wird von der Mehrheit der türkischen Gesellschaft weiterhin unterstützt oder zumindest gebilligt, wie viele Beobachter feststellten.
Zu diesen Beobachtern zählt auch der Politikwissenschaftler Professor Tanju Tosun, der allerdings betont, dass keine empirischen Daten zur Messung dieser Zustimmung vorlägen, die vorherrschende Stimmungslage aber darauf hindeute, dass die Öffentlichkeit weiter hinter der Offensive stehe.
"Die Operation hat die innenpolitische Lage etwas entspannt. Die Polarisierung zwischen Regierung und Opposition hat sich abgeschwächt", so Professor Tosun gegenüber Qantara.de.
CHP und İyi-Partei als Befürworter der Regierung
Trotz ihrer Kritik an der Außenpolitik der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), so Tosun weiter, stellten sich die Republikanische Volkspartei (CHP) als größte Oppositionspartei und die nationalistische İyi-Partei hinter die Regierung.
"Es kann jedoch durchaus Meinungsverschiedenheiten zwischen den Parteifunktionären und den Wählern an der Basis geben. Möglicherweise unterstützen auch die Mitte-Rechts- und die Mitte-Links-Wähler die Operation nicht in gleichem Maße. Ich denke, dass die liberaleren Kreise der türkischen Gesellschaft, die internationaler denken, das Thema aus völkerrechtlicher und globaler Perspektive betrachten, während die nationalistischeren Kreise eher zu den Unterstützern zählen", so Tosun.
Opposition wird nicht geduldet
Professor Tosun wies darauf hin, dass die Demokratische Partei der Völker (HDP), die den größten Zuspruch aus den kurdischen Mehrheitsgebieten der Türkei erhält, die einzige im Parlament vertretene Partei war, die sich gegen die Operation aussprach. Die Co-Vorsitzenden der HDP, Sezai Temelli und Pervin Buldan, werden beschuldigt, "Propaganda für eine terroristische Organisation zu machen" und "die Türkische Republik offen herabzusetzen". Gegen sie laufen bereits Verfahren wegen ihrer Kritik an der Operation Friedensquell.
Sie sind nicht die einzigen. Die türkische Exekutive hat rechtliche Schritte gegen mehr als 100 Personen wegen "Anstiftung zum Hass durch eine Hetzkampagne" eingeleitet, darunter die Chefredakteure zweier oppositioneller Medien und Sezgin Tanrıkulu, stellvertretender Vorsitzender der CHP und ehemaliger Vorsitzender der Anwaltskammer Diyarbakır.
Unterdessen geriet der Präsident der Rechtsanwaltskammer der Türkei, Metin Feyzioğlu, ins Visier einiger Kollegen wegen seiner Kommentare in einer Fernsehsendung zum Einmarsch der Türkei. Er behauptete, dass, wenn Zivilisten als menschliche Schutzschilde [gegen das türkische Militär] benutzt würden, sei die Türkei nicht verpflichtet, diese Menschen zu schützen. Die darauf folgende Kontroverse war nur von kurzer Dauer. Feyzioğlu schob eine Stellungnahme nach, die sich mit dem vorherrschenden Gerechtigkeitsempfinden und der öffentlichen Meinung zur Operation deckte.
Feyzioğlu erklärte, dass diejenigen, die die verbotene Kurdische Arbeiterpartei (PKK) "nicht verurteilen", in Wahrheit die Türkei kritisieren. Die PKK wird von den USA und der EU als terroristische Organisation eingestuft. Ankara sieht in der Kurdenmiliz YPG eine mit der PKK liierte "Terrororganisation", mit der die USA im Kampf gegen den islamischen Staat zusammengearbeitet habe.
Feyzioğlu kann sich tendenziell der Unterstützung einer breiten Öffentlichkeit gewiss sein. Wer nicht explizit gegen die PKK Stellung bezieht, ist in den Augen von Nationalisten bewusst gegen die Türkei oder möchte die Türkei gar insgeheim zerstören.
Ressentiments gegenüber Europa
Liberale Kräfte führen die Empörung der internationalen Gemeinschaft auf Egoismus oder Unwissenheit in dieser Frage zurück. Der Journalist und Kommentator Murat Yetkin sagte der unabhängigen Medienstelle Medyascope, die westlichen Länder täten so, als gäbe es Stabilität in Syrien und als gefährde die türkische Operation diese Stabilität. Er erklärte, den europäischen Ländern gehe es nur darum, mögliche Flüchtlinge aus der Region daran zu hindern, nach Europa zu gelangen.
Bürger der Türkei würden dem wohl zustimmen. Sie glauben, dass die EU ihrer Verpflichtung in der Flüchtlingskrise nicht ausreichend nachkommt. Die türkischen Behörden erklärten, ein Ziel der Operation bestehe darin, die sichere Rückkehr syrischer Flüchtlinge in ihr Heimatland zu gewährleisten. Dies ist ein wesentlicher Grund dafür, dass die breite Öffentlichkeit der Operation mit überwältigender Mehrheit zustimmt. Die wirtschaftlichen, finanziellen und politischen Probleme von 3,5 Millionen Flüchtlingen zu bewältigen, ist für kein Land einfach. In dieser Frage fühlen sich die meisten Türken vom Westen im Stich gelassen.
Eine im Juli vom Marktforschungsunternehmen Ipsos durchgeführte Umfrage ergab, dass 59 Prozent der Türken eine Schließung der Grenzen für Flüchtlinge befürworten.
Andererseits geht es auch darum, vor allem arabisch-syrische Flüchtlinge in eine "Pufferzone" zurückzuschicken, die in den mehrheitlich kurdisch besiedelten Gebieten errichtet werden soll. Dr. Vahap Coşkun, Wissenschaftler der juristischen Fakultät der Dicle University, meint, dass dies zu einem beunruhigenden Thema für einige Bürger wird, insbesondere für die kurdische Bevölkerung der Türkei. "Ein solcher Diskurs speist sich aus der Vorstellung, dass die Türkei eine antikurdische Politik verfolgt. Es wird schwierig, diesem Eindruck zu begegnen", meint er.
Viele Menschen in der Türkei kritisieren die Tatsache, dass die Berichterstattung in den westlichen Medien und die Tweets von US-Präsident Donald Trump die Operation als einen Krieg zwischen Türken und Kurden darstellten, obwohl ein weiteres erklärtes Ziel der Operation darin bestehe, die Kurdenmiliz YPG aus den türkischen Grenzgebieten zurückzudrängen.
[embed:render:embedded:node:37638]Die Darstellung, es handle sich bei den Milizionären der YPG ausschließlich als Kurden sowie die Darstellung der Operation als aggressiver Akt gegen kurdische Zivilisten sorgten in der öffentlichen Meinung der Türkei für weitere Entfremdung. Die fehlende Berichterstattung in den westlichen Medien über bestimmte Aspekte, wie z. B. die offizielle Ideologie der von der YPG kontrollierten Administration in Nordsyrien, wird als Parteinahme für die Sache der PKK gesehen.
Trumps "General Muslim"
Es ist kein Geheimnis, dass die YPG von dem ehemaligen europäischen PKK-Chef und Adoptivsohn Abdullah Öcalans Şahin Cilo (bürgerlicher Name Mazlum Kobanê) geleitet wird, der einen Anruf von Trump erhielt und von ihm lobend "General Muslim" genannt wurde. Diese Sympathiebekundung löste in den türkischen Medien und in der Öffentlichkeit große Enttäuschung aus.
Ein solch vager Diskurs, der nicht zwischen YPG und Kurden unterscheidet, werde von der türkischen Regierung allerdings auch zu ihrem Vorteil genutzt, wie Professor Tosun betont. Dieses Thema sei dazu geeignet, antikurdische Ressentiments im eigenen Land zu schüren. "Der Staat muss etwas gegen diese Spannungen unternehmen", sagt er.
Die Türken sind zudem über Vorwürfe verärgert, mit dem sogenannten Islamischen Staat (IS) zu sympathisieren. Schließlich habe die Türkei auch Opfer aufgrund der Angriffe des IS zu beklagen. Infolgedessen schwindet bei vielen Türken das Vertrauen in den Westen, was dem nationalistischen Diskurs in die Hände spielt, der besagt: "Türken haben keine Freunde außer Türken".
Einige Leute meinen aber auch, dieses Gefühl der Isolation spiegele die aktuelle Lage in der Türkei wider. Yıldıray Uğur, Kolumnist für das unabhängige Medienunternehmen Serbestiyet, schreibt, dass Ankaras Problem, die Lage zu kommunizieren, mit eigenen Fehlern zusammenhänge: Die Defizite in der Demokratie, der Mangel an Pressefreiheit und der Abbau der Rechtsstaatlichkeit. Dies alles habe die Chancen der Türkei auf eine überzeugende Argumentation geschwächt.
Ayşe Karabat
© Qantara.de 2019
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers