Geschneiderte Zukunft
Mit geübtem Griff schneidet Reyhane den Stoff zurecht, ganz konzentriert. Dann bügelt sie die einzelnen Teile, setzt sich an die Nähmaschine und näht die Teile zusammen. Blusen, Kleider, Mäntel. Eben das, was die Kunden bei der Frankfurter Schneiderwerkstatt "Stitch by Stitch" in Auftrag gegeben haben. Dort macht sie gerade eine Ausbildung zur Schneiderin. Oder besser gesagt eine Nachqualifikation, um ihren Gesellenbrief zu bekommen. Eigentlich ist Reyhane schon längst ein Profi, nur nachweisen kann sie das nicht. Denn Arbeitszeugnisse oder Ähnliches hat sie nie bekommen. Genauso wenig wie ihre Kolleginnen.
Reyhane ist eine von derzeit sieben jungen Frauen aus Afghanistan und Syrien, die bei dem Sozialunternehmen in Hessen eine Arbeit gefunden haben. Hinter dem Namen "Stitch by Stitch" stehen zwei Frauen: Diplom-Designerin und Sozialunternehmerin Nicole von Alvensleben und die studierte Mode-Designerin und Maßschneiderin Claudia Frick. Die Idee für das Projekt entstand vor knapp zwei Jahren - zu einer Zeit, als die Bilder der Flüchtlingsströme aus dem Sommer 2015 noch frisch waren.
Zwei Frauen, eine Vision
Die zwei Frauen wollten damals beruflich etwas Neues ausprobieren, wollten im Modebereich etwas Eigenes aufbauen. Und dann kam ihnen der Zufall zu Hilfe - in Person von Fricks Lebensgefährten.
"Warum versucht ihr nicht, etwas mit Geflüchteten zu machen?", fragte er irgendwann. Und trat mit diesem einen Satz alles los. Claudia Frick war zwar anfangs nicht so überzeugt von der Idee, sie war ihr zu schwammig und schien in der Realität kaum umsetzbar. Aber andererseits war sie schon lange mit ihrem kleinen Modelabel "Coco Lores" auf der Suche nach einer Produktionsfirma, die in geringen Mengen fertigen konnte. "Und so etwas gibt es praktisch nicht mehr in Deutschland, da war ganz klar ein Bedarf."
Nicole von Alvensleben war schnell überzeugt. Auch aus betriebswirtschaftlicher Perspektive. "Ich war Feuer und Flamme für die Idee, eine gesellschaftliche Herausforderung mit einer unternehmerischen Lösung anzugehen." Geflüchtete Frauen zu in Deutschland anerkannten Schneiderinnen auszubilden, ihnen eine berufliche Perspektive zu geben und so gleichzeitig bei der Integration zu helfen - das waren die Nahtstellen des Konzepts. Und dieses Konzept überzeugte. Für ihre Idee wurden die beiden mittlerweile von der staatlichen KfW-Stiftung als Leuchtturm-Projekt ausgezeichnet und bekamen außerdem den Frankfurter Gründerpreis 2017.
Erfolgsgeschichte im Zeitraffer
Das kleine Unternehmen hat in seiner noch jungen Geschichte schon eine rasante Entwicklung hingelegt. Gerade einmal neun Monate dauerte es von der Idee bis zur Eröffnung der Schneiderei im August 2016.
"Am Anfang hatten wir keinerlei finanzielle Unterstützung. Wir haben einen Mikrokredit aufgenommen, um uns zu finanzieren", erklärt von Alvensleben. Mit Hilfe der Finanzspritze durch die KfW-Stiftung sei dann die Anfangsfinanzierung gesichert gewesen. Mittlerweile bekommt das Projekt zudem auch Unterstützung von Seiten der Stadt Frankfurt. "Aber langfristig haben wir das Ziel, uns komplett selbst zu tragen."
Los ging es mit zwei Schneiderinnen, mittlerweile sind es sieben, eine achte steht in den Startlöchern. Und Interessenten gibt es genug. Zum einen sorgen die Frauen selbst über Mund-zu-Mund-Propaganda für Nachwuchs. Zum anderen arbeitet die Werkstatt auch mit der Bundesagentur für Arbeit, dem örtlichen Jobcenter oder mit Berami, einer Beratungsstelle für berufliche Integration in Frankfurt, zusammen.
Schneidern inklusive Deutschkurs
Es ist kurz nach neun Uhr morgens. Im hinteren Raum der Werkstatt steht der Schreibtisch von Nicole von Alvensleben - und eine Küchenzeile. Darauf stehen sieben Kaffeetassen, jede mit einem aufgedruckten bunten Buchstaben. Es sind die Anfangsbuchstaben der Namen, erklärt von Alvensleben. Jede Schneiderin hat ihre eigene Tasse. Eine kleine Geste, die gut passt zur familiären Atmosphäre in der Werkstatt.
Dass die Stimmung unter der Belegschaft gelöst und vertrauensvoll ist, spürt man sofort. Zwischen Nähmaschinengeratter und den Geräuschen des Dampfbügeleisens ist immer wieder auch Lachen zu hören. "Kaffee ist fertig", ruft die Chefin in den Werkstattraum hinein. Die Schneiderinnen holen sich ihre Tassen und halten ein kurzes Schwätzchen, bevor es zurück an den Arbeitsplatz geht.
Natürlich wäre es für die Frauen einfacher, sich in ihrer jeweiligen Muttersprache zu verständigen, auf Dari, Farsi oder Arabisch. Aber Frick und von Alvensleben legen Wert darauf, dass bei der Arbeit möglichst Deutsch gesprochen wird. Sie wollen, dass ihre Mitarbeiterinnen nicht nur schneidern können, sondern gleichzeitig auch die Sprache erlernen. "Das ist ein ganz wichtiger Punkt für uns", sagt Nicole von Alvensleben. "Zweimal pro Woche kommen ein Lektor und eine pensionierte Lehrerin ehrenamtlich zu uns in die Werkstatt, um Deutschunterricht zu geben."
Die Sprache der Mode
Die Kommunikation klappt eigentlich sehr gut, berichten die Gründerinnen. Selbst, wenn die Frauen gerade erst nach Deutschland gekommen sind und noch kaum ein Wort deutsch sprechen. "Das Schneiderhandwerk ist wie eine globale Sprache", sagt von Alvensleben. "Man näht eine Bluse in Afghanistan oder in Syrien genau wie in Deutschland. Wenn Claudia mit den Frauen am Tisch steht, braucht es nicht viele Worte."
Nur in Details komme es manchmal vor, dass es aufgrund der Sprachbarriere hin und wieder Missverständnisse gebe, ergänzt Frick. "Aber der große Vorteil unserer Arbeit liegt darin, dass wir das, was wir machen, alle gern tun. Da ist es völlig egal, aus welchem Land und aus welcher Kultur wir kommen. Wir haben eine schöne, gestalterische Arbeit, und die machen wir einfach gern zusammen. Über diesen Aspekt verstehen wir uns auch."
Reyhane beispielsweise schneidet gern Stoff zu. "Aber ich mag auch das Zusammennähen. Eigentlich gefällt mir alles hier, die Arbeit mit den Stoffen, die Farben, die Kleidung." Ein bisschen schüchtern spricht sie ins Mikrofon, erzählt ihre Geschichte. Sie ist 25 Jahre alt und gebürtige Afghanin. Aber schon vor ihrer Geburt floh die Familie aus dem westafghanischen Herat ins Nachbarland Iran. Dort wuchs sie auf, ging neun Jahre zur Schule. Seit sie denken kann, kennt Reyhane das Geräusch von Nähmaschinen. Ihr Vater ist ebenfalls Schneider, und mit sieben fing auch sie an, sich das Handwerk beizubringen, hatte später bereits eigene Kunden.
Tabuthema Flucht
Seit zwei Jahren ist Reyhane jetzt in Deutschland, sie kam zusammen mit ihrem Mann und ihren Eltern. Über die Hintergründe und über die Flucht an sich spricht sie nicht. Claudia Frick und Nicole von Alvensleben stellen auch keine Fragen dazu. Bewusst nicht. Sie wissen nicht, was ihre Angestellten im Krieg in Syrien miterleben mussten oder was ihnen auf dem Weg nach Deutschland möglicherweise zugestoßen ist.
"Wir haben, bevor wir die Werkstatt aufgemacht haben, von einem Trauma-Experten ans Herz gelegt bekommen, nicht aktiv nachzufragen nach ihren Geschichten", erklärt von Alvensleben. "Er meinte, man könne nicht wissen, was dadurch ausgelöst wird. Und wir wären eben auch nicht diejenigen, die das auffangen könnten. Dazu bräuchte es ausgebildete Therapeuten."
Vielleicht öffnen sich die Frauen irgendwann von selbst und wollen reden, meint sie. Aber den Zeitpunkt bestimmen nur sie allein. Den beiden Gründerinnen ist es vor allem wichtig, ihren Mitarbeiterinnen einen Ort zu geben, an dem sie sich sicher fühlen und nach vorne schauen können. "Jeder hat seine eigene Vergangenheit. Aber jetzt bauen wir gemeinsam eine Zukunft. Das ist wichtig."
Gerade am Anfang merkt man, dass die Frauen viel im Kopf haben und unsicher sind, erzählt von Alvensleben. "Aber unsere Gemeinschaft hier holt die Frauen einfach ab. Ich habe den Eindruck, dass sie nach einer gewissen Zeit ihre Sorgen vor der Tür lassen können."
Gefragte Dienstleiter
Immer wieder klingelt das Telefon von Nicole von Alvensleben: Im Gespräch mit dem Job-Center geht es beispielsweise um eine potenzielle neue Mitarbeiterin und ihren Aufenthaltstitel. Oder aber es kommen Anfragen und Aufträge von Kunden. Allein 20 bis 25 Stammkunden hat "Stitch by Stitch" mittlerweile, erzählt Nicole von Alvensleben. Es sind Startup-Labels aus Frankfurt und Umgebung, die bei der Werkstatt kleine Serien in Auftrag geben. Designer bringen ihre entworfenen Schnittmuster und Stoffproben vorbei, und die Mitarbeiterinnen fertigen dann daraus die gewünschte Anzahl an Kleidungsstücken, mal fünf, mal 100 Stück.
Neun Euro pro Stunde verdienen die Frauen bei "Stitch by Stitch", nur bei Berufsanfängerinnen in der Ausbildung liegt das Gehalt etwas darunter. Geld, um sich eine Zukunft aufzubauen.
Mindestens genauso wichtig ist aber etwas ganz Anderes. "Wir bieten eine klassische Lehre an, die Frauen gehen hier auch in die Berufsschule. Unsere Schneiderinnen sind wirklich sehr talentiert. Aber keine von ihnen hat eine offizielle Ausbildung oder ein Zertifikat aus der Heimat", sagt von Alvensleben. "In Deutschland ist es aber nun mal sehr wichtig, einen Abschluss und Papiere vorweisen zu können. Das wissen unsere Schneiderinnen auch. Deshalb war es für viele auch interessant, in eine Ausbildung zu gehen."
Auf dem Weg zur Eigenmarke
Noch sind die jungen Frauen reine Dienstleister, nähen zusammen, was andere entworfen haben. Aber das soll nicht so bleiben. Denn Claudia Frick und Nicole von Alvensleben haben schon neue Pläne für die Zukunft. Sie wollen, dass die Schneiderwerkstatt weiter wächst - vielleicht auf die doppelte Größe. Und sie möchten außerdem das kreative Potenzial ihrer Mitarbeiterinnen mehr fördern. Die Schneiderinnen sollen eines Tages auch selbst Mode entwerfen und Einflüsse aus ihrer Heimat einbringen.
Claudia Frick bekommt leuchtende Augen, wenn sie davon spricht. "Als Modedesignerin sehe ich immer wieder Dinge, die mich begeistern: Zum Beispiel, wie die Frauen sich in der westlichen Welt die Mode zu eigen machen. Sie möchten eben nicht viel Haut zeigen, und deshalb tragen sie einfach Schichten, beispielsweise ein weit ausgeschnittenes Kleid mit einem Shirt darunter."
Solche Einflüsse seien im Moment sehr modern, sagt sie. Frick wünscht sich, gemeinsam mit ihren Schneiderinnen eine Mode zu kreieren, die kulturübergreifend ist. "Wir wollen Mode machen, die jeder tragen kann. Es soll weder rein westlich noch speziell muslimisch sein."
Auch Reyhane träumt davon, selbst mit zu gestalten. Sie möchte auf jeden Fall nach dem Ende ihrer Ausbildung in Deutschland bleiben und weiter für "Stitch by Stitch" arbeiten. Zu Hause, das ist für sie jetzt Frankfurt. Der Ort, an dem sie die Chance auf eine Zukunft in ihrem Traumberuf bekam.
Esther Felden
© Deutsche Welle 2017