Migranten unter Anpassungsdruck
Im Laufe des Jahres 2015 kam mehr als eine Million Menschen nach Deutschland. Sie suchten nach Schutz und einem neuen Leben für sich und ihre Familien. Diese neue Zuwanderung wird Deutschland verändern. Nachdem viele praktische Fragen weitgehend geregelt sind, Wohnraum vermittelt und Sprachkurse eingerichtet wurden, geht es jetzt um die Integration der neu Zugewanderten.
Bei dem Referendum über die Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei hatten am vergangenem Sonntag 51 Prozent der Wähler mit "Ja" gestimmt. Unter den türkischen Wählern in Deutschland stimmten rund 63 Prozent für die Vorlage, mit der Präsident Recep Tayyip Erdoğan seine Macht ausbauen will. Das sorgt hierzulande für politischen Disput.
Während die Grünen das Abstimmungsverhalten als Konsequenz der Versäumnisse in der Integrationspolitik der vergangenen Jahrzehnte betrachten, ist bei den Unionspolitikern inzwischen sogar ein neuerlicher parteiinterner Streit um die Abschaffung des Doppelpasses entbrannt. Die CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt sagte, sie hätte sich von den in Deutschland lebenden Türken "ein klares Bekenntnis zu Rechtsstaatlichkeit und Demokratie gewünscht." Leider sei genau das Gegenteil passiert.
Seit der Flüchtlingskrise und dem Abstimmungsverhalten von Türken in Deutschland beim Referendum wird wieder einmal erbittert gestritten, was Integration bedeutet und welche Anforderungen Deutschland an die Migranten stellen soll.
Wer bei uns Schutz sucht, muss sich an Sitten und Gebräuche hierzulande anpassen, ist dabei der Tenor in Kommentarspalten bis hin zu den offenen Forderungen von Rechtspopulisten, zentrale Punkte muslimischer Identität wie den Bau von Moscheen einfach zu verbieten. Die Forderung nach Assimilierung, nach der vollständigen Anpassung an "unsere Werte", ist zunehmend populär.
Neuauflage von Leitkultur-Debatten
Die Idee der Leitkultur – ursprünglich von dem deutsch-syrischen Politikwissenschaftler Bassam Tibi in die Diskussion eingebracht und von Norbert Lammert (CDU) vertieft – geistert wieder durch die politischen Debatten, nachdem es einige Jahre still um sie geworden war. Hinter der Idee einer Leitkultur steckt die Vorstellung, dass es nicht ausreicht, wenn jeder Bürger und jede Bürgerin sich an die Gesetze hält. Die neu Zugewanderten sollen auch die ungeschriebenen Gesetze und die kulturellen Wurzeln im Land teilen – was auch immer das heißt. Ihre eigene kulturelle Prägung und die emotionale Bindung an ihre Herkunftsländer wird dabei als hinderlich betrachtet.
Das Bayerische Integrationsgesetz, seit 1. Januar 2017 in Kraft, geht in diese Richtung. Das Gesetz soll helfen, die Leitkultur als den "identitätsprägenden Grundkonsens" im Land zu bewahren. Ähnlich der Vorschlag der CDU-Politiker Jens Spahn und Julia Klöckner für ein Islamgesetz mit gesetzlichen Vorgaben für Moscheegemeinden und einem Verbot der Finanzierung aus dem Ausland. Es soll garantieren, dass sich die Imame in den Moscheegemeinden nicht nur an die Gesetze halten, sondern "unsere" Wertvorstellungen vermitteln. Aber auch nach mehr als 15 Jahren Debatte über Leitkultur ist unklar, was damit gemeint sein soll.
"Sollen sich Migranten an den Punk oder an den Bildungsbürger anpassen? ", bringt der Migrationsforscher Jochen Oltmer von der Universität Osnabrück diese Unklarheit auf den Punkt. Die Erfahrung aus den letzten Jahrzehnten habe gezeigt, dass man "Integration nicht nur als Anpassung verstehen darf", betont Oltmer. Denn dazu sei Deutschland viel zu heterogen und die Vorstellung einer einheitlichen Gesellschaft schlicht falsch. Es gibt heute eine schier unübersichtliche Vielfalt an Lebensentwürfen und kulturellen Identitäten, die viel stärker im Fluss sind als häufig angenommen. Klare ethnische Zuordnungen werden schwieriger, Mehrdeutigkeiten nehmen zu. In manchen Stadtteilen von Hamburg, München, Köln oder Berlin leben heute überwiegend Menschen mit ganz unterschiedlichem ethnischem, kulturellem und religiösem Hintergrund.
Mangelnde chancengleiche Teilhabe von Migranten
Oltmer versteht Integration stattdessen als chancengleiche Teilhabe beim Zugang zu Arbeitsmarkt, Bildung und Gesundheit. Im Übrigen gehe es dabei nicht nur um Migranten sondern um die Teilhabe aller, auch um die Anpassung der ganzen Gesellschaft an eine veränderte Situation. Bei der Teilhabe gibt es aber noch etliche Defizite - auch bei jenen Migranten, die hier geboren und aufgewachsen sind.
"Wir kommen zu langsam voran", meint der Sozialpädagoge Samy Charchira von der "Aktion Gemeinwesen und Beratung" in Düsseldorf. Er sieht Probleme bei der "strukturellen Integration" in Form von Zugangsbarrieren zum Ausbildungs- und Arbeitsmarkt sowie Hindernisse bei der Wohnungssuche, wo neue Migranten zunehmend nur in belastete soziale Räume ziehen könnten.
Studien bestätigen die Diskriminierung am Arbeitsmarkt. Schüler mit türkischem Namen haben bei gleichen Voraussetzungen deutlich schlechtere Chancen zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden (z.B. die Studie des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen von 2014) als Schüler mit deutschem Namen. Ähnlich sieht es auch auf dem Wohnungsmarkt in den Ballungsräumen aus. "Wenn wir sie ausgrenzen, dann suchen sie nach alten Identitäten und Gegenkonstrukten", warnt Charchira.
Migrationsforscher wie etwa Ruud Koopmans vom Institut für Sozialwissenschaften an der Berliner Humboldt Universität und Teile der Öffentlichkeit machen dagegen Kultur und Religion der Migranten als Integrationshindernisse aus. Es ist richtig, dass etwa syrische Flüchtlinge mit anderen Vorstellungen über Geschlechterrollen, Familienbilder oder Kindererziehung nach Deutschland kommen. Doch wer dann "den Islam" oder "die arabische Kultur" als Stolpersteine auf dem Weg zur Integration ausmacht, übersieht, dass kulturelle Prägungen keineswegs in Stein gemeißelt sind.
Im Gegenteil, sie sind ja auch hierzulande im steten Wandel begriffen. Die Anerkennung etwa von gleichgeschlechtlicher Liebe ist auch in Deutschland ein junges Phänomen. Wer argumentiert, Migranten seien aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit prinzipiell nicht kompatibel mit der liberalen Gesellschaft, verlangt von den Migranten alles und von der aufnehmenden Gesellschaft nichts. Das macht es gerade den jungen Migranten umso schwerer, hier anzukommen.
"Ausgrenzungsfuror" moderner Gesellschaften
Junge Migranten hätten häufig Probleme bei der Identitätsfindung, meint Charchira, bei dem, was er "emotionale Integration" nennt. Er meint damit nicht nur die Geflüchteten sondern auch junge Menschen mit zum Beispiel türkischem Hintergrund, die hier aufgewachsen sind. Wer sie alle mitnehmen will, anstatt sich nur durch Abgrenzung selbst zu vergewissern, muss für moderne Werte wie Gleichberechtigung, für Toleranz und offene Diskussion, für die Anerkennung verschiedener sexueller Orientierungen werben, er muss zeigen, dass diese Werte attraktiv sind und dass sie im Zweifel auch für alle gelten.
Wie kann das am besten geschehen? Sicherlich nicht durch Diffamierung der Neu-Bürger.
Der Grazer Philosophieprofessor Peter Strasser hat in einem Beitrag für die Neue Zürcher Zeitung vom 20. Februar 2017 mehr Rücksicht auf die Selbstachtung von Migranten gefordert. Er beklagt den "Ausgrenzungsfuror" moderner Gesellschaften, die unter dem "Deckmäntelchen der Rationalität" Menschen mit fremder Religion und Herkunft zu einem "Anderen" abstempeln. Es sei dann die "beschädigte Selbstachtung" der Migranten, die zur Desintegration führe.
Das heißt nicht, dass es keine Probleme gäbe. Integration ist ein Langzeitprozess und Konflikte sind völlig normal. Andreas Fisch, Referent für Wirtschaftsethik am Sozialinstitut des Erzbistums Paderborn, hat sich mit der Frage beschäftigt, wie in einer Gesellschaft eine gemeinsame Identität entsteht.
Er rät, Probleme zu benennen, ohne Migranten herabzuwürdigen und plädiert für mehr Gelassenheit und Vertrauen in die Anziehungskraft westlicher Werte. Dabei sei Fairness in der Auseinandersetzung "entscheidend". Migranten zustehende Rechte sollten vorbehaltlos gewährt werden. Lehrerinnen sollten also mit Kopftuch unterrichten und Schülerinnen im Schwimmunterricht den Burkini tragen dürfen. Es entspräche unserer freiheitlichen Gesellschaft, einen Burkini "ertragen" zu müssen, meint Fisch, "genauso wie der Pfarrer den Swinger-Club in der Nachbarschaft und die Swinger-Club-Besitzerin das sonntägliche Geläut der Kirchenglocken ertragen muss."
Wenn unterschiedliche Ansprüche gelebt werden dürfen, erhöht das den Willen zum Kompromiss. Nur so kann es auf lange Sicht ein friedliches Zusammenleben in einer offenen Gesellschaft geben.
Claudia Mende
© Qantara.de 2017