''Wir wollen keinen Gottesstaat''
Herr Präsident, kommende Woche jährt sich die Revolution gegen das Regime Husni Mubaraks zum zweiten Mal. In den Tagen der Proteste auf dem Tahrir-Platz war Ägypten geeint, heute ist die Gesellschaft gespalten. Was tun Sie, um Ihr Volk wieder zusammenzuführen?
Mohammed Mursi: Mein Bestes. Ich freue mich, dass es Meinungsvielfalt gibt, und ich bin froh, dass es eine Opposition gibt. Wir lernen noch, wie man in einem völlig demokratischen Umfeld zusammenarbeitet - mit wirklichen Freiheiten, zu unser aller Wohl, um gemeinsam voranzukommen. Niemand hat das Recht, Gewalt anzuwenden. Zurzeit haben wir kein Parlament, das wird bald anders sein.
Das Verfassungsgericht hatte im Juni 2012 die erste freie Parlamentswahl des Landes für verfassungswidrig erklärt. Jetzt wird im Frühjahr wieder ein Parlament gewählt. Wird das zur Versöhnung beitragen?
Mursi: Es gibt eine große Chance für alle Parteien und politischen Blöcke, sich an den Wahlen zum neuen Parlament zu beteiligen. Das zu garantieren, ist meine Pflicht. Ich werde den Frieden um jeden Preis bewahren helfen, damit alle Teile der Gesellschaft daran teilhaben können. Ich glaube, die Zukunft wird sehr viel besser sein als die Vergangenheit.
In der Gegenwart gibt es große Probleme: Das ägyptische Pfund ist auf seinen historischen Tiefstand gefallen, bei Demonstrationen hat es Tote und Verletzte gegeben.
Mursi: Natürlich haben wir Probleme, natürlich gibt es soziale Unterschiede und politische Differenzen. Das ist normal für Revolutionen, besonders für die ägyptische, an der sich mehr als zwanzig Millionen Ägypter beteiligt haben. Aus jeder Familie hat sich mindestens ein Mitglied an der Revolution beteiligt, und das nach einer so langen Zeit der Diktatur, in der das Regime Gewalt gegen das Volk angewendet hat.
Angesichts der großen Herausforderungen ist es im neuen Ägypten nur normal, dass es Differenzen und Demonstrationen gibt. Aber wir bewegen uns in die richtige Richtung, um unsere Ziele zu erreichen. Beten Sie für uns!
Kritiker fürchten, dass Ägypten ein Gottesstaat werden könnte.
Mursi: Wir glauben nicht an einen Gottesstaat. Den Begriff der Theokratie gibt es bei uns nicht. Wir sprechen immer von einem zivilen Staat. In dem Dokument der Al-Azhar-Universität, das wir alle unterschrieben haben (Am 20. Juni 2011 hatten führende islamische und säkulare Gelehrte das Konzept eines islamischen Staates abgelehnt und stattdessen einen zivilen Staat gefordert., d. Red.), ist von einem modernen Staat die Rede, von einem demokratischen Staat, von einem Rechtsstaat und von einem Staat, in dem die Freiheiten garantiert sind. Das ist der Begriff des Staats, den wir vertreten. Im Laufe der islamischen Geschichte haben wir verstanden, dass es einen theokratischen Staat nicht gibt.
Der Staat, an den wir glauben, ist ein moderner Staat, in der die Machtübergabe friedlich verläuft, in der Demokratie und Freiheiten herrschen, in der die Opposition und soziale Gerechtigkeit respektiert werden. In diesem Staat ist das Volk der Souverän, von dem alle Gewalt ausgeht.
In Europa herrscht Sorge über die Lage der Kopten in Ägypten. Was tun Sie zu ihrem Schutz?
Mursi: Alle Ägypter sind vor dem Gesetz gleich, haben die gleichen Rechte und Pflichten, unabhängig von ihrem Glauben und ihrer Religion. Der Begriff Minderheit lässt sich nicht anwenden auf die christlichen Bürger Ägyptens. Sie sind Bürger des Landes - wie alle anderen auch. Für uns ist die Staatsbürgerschaft entscheidend, wie sie in der neuen ägyptischen Verfassung verankert ist. Darin regelt Artikel 2 die Rolle der Scharia für die Gesetzgebung, Artikel 3 regelt die Angelegenheiten der koptischen und jüdischen Mitbürger.
Zum ersten Mal dürfen sie im Personenstandsrecht nach ihren eigenen Statuten entscheiden. Es herrscht das allgemeine Bewusstsein, dass in der neuen Verfassung die Freiheiten für alle festgeschrieben sind. Aufgrund meines Glaubens bin ich angehalten, gegenüber Nichtmuslimen gerecht und unparteiisch zu sein, auch, weil mich Scharia und Verfassung dazu verpflichten.
Aber viele Christen sind dennoch in Sorge.
Mursi: Am nationalen Dialog, den wir im Dezember begonnen haben, sind Muslime und Kopten beteiligt. Dessen Beschlüsse habe ich in die Tat umgesetzt. Durch meine Befugnisse habe ich zudem 90 Mitglieder des Schura-Rats ernannt. Christen stellen darin jetzt 15 Prozent der ernannten Mitglieder - so viele wie nie zuvor.
Koptische, katholische und evangelische Kirchen haben acht Kandidaten vorgeschlagen und ich noch vier dazu. Mein Verhältnis zu den Kopten ist sehr gut, es gibt keine Probleme.
Es kommt immer wieder zu Übergriffen.
Mursi: Ja, ab und zu gibt es Vorfälle, hier und dort, die falsch und verzerrt dargestellt werden. Diese Reibungen sind sozialer Natur, nicht konfessioneller. Es gibt Streitigkeiten zwischen Muslimen und unter Kopten. Das ist die Natur des Lebens. Die Medien bauschen das manchmal auf. Früher haben alle Ägypter unter der Diktatur gelitten. Sie haben nicht wegen ihrer Glaubenszugehörigkeit gelitten.
Was tun Sie, um die Gleichberechtigung der Frauen in Ägypten zu sichern?
Mursi: Männer und Frauen sind zu hundert Prozent gleich. Frauen sind Bürgerinnen - die neue Verfassung garantiert ihnen alle Rechte. Die Frau ist meine Mutter, meine Schwester, meine Tochter, meine Ehefrau, meine Kollegin, und sie nimmt am politischen Prozess teil. Eine meine Mitarbeiterinnen ist verantwortlich für den politischen Dialog, der unter meiner Aufsicht stattfindet. Wir haben keine wirklichen Probleme, sie sind künstlich erzeugt.
Politisch - und zwar auf der ganzen Welt - ist die Rolle von Frauen nicht so groß, wie sie sein sollte. Ich würde mich sehr freuen, wenn es eine große Anzahl von Frauen ins neue Parlament schaffte. Die ägyptische Frau ist sehr stark. Insgesamt kommt sie voran, auch im Arbeitsleben. Es gibt Geschäftsfrauen, Ärzte, Juristinnen, sogar Taxifahrerinnen. Sie werden respektiert und haben alle Rechte von Männern - manchmal sogar mehr.
Als Sie sich im vergangenen November in einer Verfassungserklärung mit Sonderbefugnissen ausstatteten, hat man Sie als "Pharao" bezeichnet. Was tun Sie, um dieses Image wieder loszuwerden?
Mursi: Mit der neuen Verfassung sind wir Ägypter alle gleich. Vom Staatspräsidenten bis zum kleinsten Bürger. Die Zeit der Diktatur ist vorbei. Wir haben nur noch einen weiteren wichtigen Schritt vor uns, die Wahl des neuen Parlaments, und der wird in wenigen Monaten erfolgen.
Die Verfassungserklärung war zwingend notwendig, um die Errungenschaften der Revolution zu wahren. Niemand hat Schaden genommen, weder Personen noch Institutionen. Einige Artikel in der Erklärung wurden falsch interpretiert und falsch verstanden. Ich habe von meinen legislativen Befugnissen keinerlei Gebrauch gemacht, nicht gegen Personen oder gegen irgendeine Institution.
Und doch ist das Klima so aufgeheizt, dass es heftige Straßenschlachten gibt.
Mursi: Nach Verabschiedung der Verfassung ist wieder Normalität eingekehrt. Meinen Sie wirklich, dass es nach der Revolution vom 25. Januar möglich sein kann, dass eine neue Diktatur entsteht? Ich respektiere die Meinung von anderen und arbeite daran, dass Meinungsfreiheit herrscht. Meine Arbeit besteht darin, die Interessen aller Ägypter zu wahren.
Sie haben einen "tiefen Staat" aus Kreisen der Sicherheitskräfte und der Justiz für konterrevolutionäre Umtriebe verantwortlich gemacht. Wie stark sind diese Kräfte noch?
Mursi: Die Korruption wucherte nicht nur in der Diktatur, sondern hat auch heute noch Möglichkeiten, den Weg der Freiheit und der Demokratie mit allen Mitteln zu verhindern. Aber diese Korruption nimmt mit der Zeit ab. Die Diktatur und die Bürokratie, die über Jahrzehnte geherrscht haben, bekämpfe ich im Rahmen der Verfassung mit dem Gesetz und der Justiz. Ich gehe diesen Weg mit aller Stärke, aber nicht durch Sondermaßnahmen.
Ende Januar werden Sie nach Berlin reisen. Was erwarten Sie von diesem Besuch?
Mursi: Deutschland hat viel zu bieten, was wir nutzen können: Wissenschaft, Technologie, eine stabile Wirtschaft. Andererseits hat auch Ägypten viel anzubieten, was Deutschland nutzen kann: etwa als Standort für Investitionen. Ägypten ist das wichtigste Tor nach Afrika.
Ich wünsche, dass die deutsche Rolle in Ägypten und im Nahen Osten größer wird - wirtschaftlich und politisch, um zu Stabilität und zu Frieden in der Region beizutragen. Wir bewegen uns auf starke Beziehungen mit Deutschland zu, insbesondere beim Transfer von Technologie, vor allem bei Entwicklung und Forschung.
Was wollen Sie tun, um Arbeitsplätze in Ägypten zu schaffen?
Mursi: Investitionen sind der Schlüssel. Viele ägyptische und ausländische Firmen wollen in Ägypten investieren, dafür müssen wir die gesetzlichen Rahmenbedingungen schaffen. Ägypten hat ein großes Potential im Vergleich zu anderen Ländern, und das ist auch den Investoren bewusst, die nach Ägypten kommen wollen und hier Arbeitsplätze schaffen. Wirtschaftlich haben wir noch eine weite Strecke zurückzulegen, nachdem wir schon viele Erfolge erzielt haben auf dem Weg der Demokratisierung und der politischen Stabilisierung des Landes.
Wird Ägypten weiter ein Partner des Westens sein oder eine Politik der Unabhängigkeit verfolgen?
Mursi: Gibt es einen Widerspruch zwischen Unabhängigkeit und Partnerschaft?
Eine Annäherung Ägyptens an den Iran wird in Europa und den Vereinigten Staaten kritisch gesehen.
Mursi: Wir streben ausgeglichene Beziehungen zu allen Staaten der Welt an - unabhängig, souverän und zur Wahrung der gemeinsamen Interessen. Wenn ich von ausgeglichenen Beziehungen spreche, heißt das, dass wir uns nicht in die Angelegenheiten anderer Staaten einmischen. Die Einteilung der Welt in Lager ist eher kontraproduktiv. Nur weil ich starke Verbindungen zu Deutschland unterhalte, heißt das nicht, dass sie zu anderen Staaten schwächer werden oder gar negativ.
Die ägyptische Revolution wurde für Freiheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit geführt. Die Ägypter wollen wirtschaftlichen Aufschwung und soziale Gerechtigkeit. Darauf aufbauend haben wir unser außenpolitisches Handeln entworfen.
Warum ist Ägypten in Syrien nicht so aktiv wie Qatar und die Türkei?
Mursi: Syrien erlebt ein Drama. Wir versuchen, zunächst das Blutvergießen zu beenden. Dann können die Syrer ihr Haus selbst aufräumen. Das jetzige Regime hat keinen Platz mehr in einem neuen Syrien, nachdem mehr als 60.000 Menschen getötet wurden und viele mehr verwundet. Das werden die Syrer nicht vergessen können. Durch ihre Vertretung, die Nationale Koalition, haben die Assad-Gegner ihre Angelegenheiten bereits selbst in die Hand genommen. Wir versuchen sie darin zu unterstützen.
Wäre nicht stärkere Unterstützung von außen nötig?
Mursi: Ägypten versucht zu helfen, die Veränderung kann aber nur durch die Syrer selbst vollzogen werden. Wir sind gegen eine Teilung des Landes, das wäre eine bedrohliche Gefahr für die ganze Region. Durch das Quartett, das Ägypten mit der Türkei, Saudi-Arabien und Iran ins Leben gerufen hat, versuchen wir, eine Lösung zu finden. Dabei arbeiten wir eng mit den anderen arabischen Ländern, mit der Europäischen Union, den Vereinigten Staaten, Russland, China und den Vereinten Nationen zusammen.
Die Lage verschlimmert sich Tag für Tag, mehr als vierzig Prozent der Infrastruktur sind schon zerstört. Ägypten verfolgt keine Partikularinteressen in Syrien, sondern will nur Sicherheit und Stabilität. Dafür braucht es viel Zeit.
Die Region bleibt auch zwei Jahre nach revolutionären Umbrüchen in Aufruhr: In Syrien herrscht Bürgerkrieg, der Waffengang zwischen Israel und der Hamas in Gaza liegt erst zwei Monate zurück. Arbeiten Sie daran, die ägyptische Truppenpräsenz an der Grenze zum Gazastreifen und zu Israel zu erhöhen?
Mursi: Die Wahrung des Friedens im Nahen Osten setzt die Zusammenarbeit aller voraus. Das neue Ägypten und sein Staatspräsident sind dem Frieden und der Stabilität im Nahen Osten verpflichtet. Um unsere Sicherheit zu wahren, werden wir unsere Grenzen mit allen Nachbarn schützen. Dafür arbeiten wir hart, und wir haben dabei große Fortschritte erzielt.
Wir haben keine Probleme an den Grenzen, wir sind aber wachsam gegen jede Art von Aggression über die Grenzen hinweg. Wir respektieren, was wir unterschrieben haben, und wir respektieren das Recht der Menschen, in Frieden und Sicherheit zu leben. Wir wollen einen Nahen Osten, wie er im Friedensvertrag vereinbart ist, mit einem gerechten und umfassenden Frieden.
Interview: Markus Bickel und Rainer Hermann
© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2013
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de