Pyrrhus-Sieg der Islamisten
Es ist richtig, dass die Muslimbrüder und Salafisten die erste Runde des Verfassungsreferendums für sich entschieden haben. Über 56 Prozent stimmten für den umstrittenen Verfassungsentwurf, 43,5 Prozent dagegen. Die Wahlbeteiligung lag bei schlappen 33 Prozent.
Anders gerechnet: Von etwa einem Drittel der Ägypter, die gewählt haben, stimmt etwas mehr als die Hälfte für Verfassung. Was bedeutet das für Legitimität einer Verfassung, in der sich eigentlich ein ganzes Land wiederfinden sollte, wenn ihr gerade einmal 18 Prozent der Wahlberechtigten zustimmen?
Mobilisierungsapparat auf Hochtouren
Für Ägyptens Islamisten gibt es mit diesem Ergebnis wenig zu feiern. Es ist überraschend schwach. Und das trotz des enormen Mobilisierungsapparats der Muslimbrüder, der bis ins letzte ägyptische Dorf reicht und trotz der Salafisten-Scheichs, die in ihren Predigten in den Moscheen der Armenviertel die Verfassungsgegner als "Ungläubige" gebrandmarkt haben.
Das "Nein"-Lager besitzt dagegen keine Apparate und keine Moscheen. Das unorganisierte Lager der Verfassungsgegner hatte gerade einmal vor wenigen Tagen beschlossen, nicht zu boykottieren und mit "Nein" zu stimmen. Da waren die Mitglieder der Muslimbrüder schon fast zwei Wochen von Haus zu Haus gegangen, um die Menschen von einem "Ja" zu überzeugen.
Die Verfassungsbefürworter haben alles, was ihnen zur Verfügung stand, in die Waagschale geworfen. Sie sind mit dem Slogan angetreten: "Mit der Verfassung, wird das Rad Ägypten sich endlich zu drehen beginnen". Ein kluger Spruch, denn damit wollen sie alle jene mobilisieren, denen der Inhalt der Verfassung nicht wichtig ist und die einfach mit "Ja" stimmen sollten, damit es mit dem Land weitergeht. "Ich stimme zu, damit ich wieder Arbeit bekomme", war auch ein Satz der von vielen gestern vor den Wahllokalen in Kairo zu hören war. Über den Inhalt des Verfassungsentwurfes wussten sie kaum Bescheid.
Das heißt aber auch im Umkehrschluss, dass 43 Prozent der Ägypter gegen den Verfassungsentwurf gestimmt haben, in dem vollen Bewusstsein, dass mit diesem "Nein" die Verfassungsfrage erneut aufgerollt würde und das Land weiterhin politisch stillsteht. Es war ihnen einfach zu wichtig, auf welcher Grundlage ihr Staat in Zukunft stehen soll. Das zeigt, wie sehr die Ägypter in den letzten zwei Jahren politisch gewachsen sind.
Auf dem absteigenden Ast
Ja, es sieht so aus, als ob die Islamisten ihren Verfassungsentwurf durchdrücken werden, aber sie sind eindeutig auf dem absteigenden Ast. Bei den ersten Parlamentswahlen hatten Muslimbrüder und Salafisten zusammen noch 69 Prozent der Sitze.
Der von den Muslimbrüdern stammende Präsident Mohammed Mursi war gerade einmal mit etwas mehr als einem Viertel der Stimmen der Wahlberechtigten gewählt worden. Und jetzt stimmten nur 18 Prozent der Wahlberechtigten für den Verfassungsentwurf.
Die Muslimbrüder waren zunächst im Parlament und sind jetzt im Präsidentenamt gerade einmal ein Jahr an der Macht. Was wird bei den nächsten Parlamentswahlen geschehen, die innerhalb von 60 Tagen stattfinden müssen, nachdem die Verfassung in Kraft getreten ist?
Wenn sich das Lager der Liberalen vernünftig organisiert und zusammenschließt, dann können die Islamisten in Ägypten erstmals an den Wahlurnen geschlagen werden. Das ist die wichtigste Lektion dieses Verfassungsreferendums, dessen zweite Runde für nächsten Samstag noch aussteht.
Innerhalb von zwei Jahren wurde Mubarak beseitigt, sind die Vertreter des alten Regimes bei den Wahlen bis fast zur Unkenntlichkeit verschwunden, wurde das Militär politisch in die Rente geschickt. Und nun erleben die Islamisten ihren bisher knappsten Wahlsieg und müssen fürchten, das nächste Mal an den Urnen ernsthaft herausgefordert zu werden.
Ägyptens Demokratie und politische und gesellschaftliche Öffnung schreitet in großen Schritten voran. Viel schneller, als es so mancher europäischer Unkenrufer wahrhaben will, der wahrscheinlich auch jetzt wieder vom "Arabischen Winter" und der islamistischen Machtergreifung schwadronieren wird.
Karim El-Gawhary
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de