Musik als Anti-Politik
Herr Barenboim, schon als Kind wollten Sie die Musik zum Mittelpunkt Ihres Lebens machen. Dennoch sagen Sie immer wieder "etwas zu wollen und dann etwas zu können, kann ein sehr langer Weg sein". Was wollen Sie den Stipendiaten aus Israel und den arabischen Staaten in Berlin auf diesem schwierigen Weg mitgeben?
Daniel Barenboim: Ich möchte Ihnen natürlich beibringen, dass hohe technische Qualität des Spielens unbedingt notwendig ist. Aber es geht viel weiter, denn Musik ist kein bloßer Beruf sondern eine Lebensweise, für die man große Professionalität braucht.
Als junge Studenten damals zu Franz Liszt nach Weimar kamen, hoffte der Komponist und Pianist, dass sie durch ihr Studium bei ihm bessere Menschen würden. Das ist nicht nur Rhetorik des 19. Jahrhunderts, sondern tatsächlich die Wahrheit.
Wir müssen die Musik aus dem Elfenbeinturm holen - sowohl für die Musiker als auch für das Publikum -, sonst wird die klassische Musik das 21. Jahrhundert nicht überleben. Leider ist Musik nicht mehr Teil unserer Kultur. Die Kinder in den Schulen müssen deshalb mit Musik in Berührung kommen, sie "erlernen", so wie sie Literatur, Geografie und Biologie erlernen.
Wenn wir über Musik sprechen, meinen wir unsere Reaktion auf Musik. Der Eine sagt: "Ach, Musik ist so poetisch!" Der Andere sagt: "Nein, sie ist pure Mathematik!". Der Andere sagt: "Nein, das ist sinnlich!" - und so weiter und so weiter. Das stimmt alles, aber Musik ist nicht nur eins von diesen Dingen, sondern sie ist alles zusammen. Und jeder von uns findet in ihr das, was er sucht.
Der italienische Komponist Ferruccio Busoni gab die beste Definition, als er sagte: "Musik ist klingende Luft." Ich finde, das sagt alles – und gleichzeitig nichts. Ich denke, wir müssen diesen geistigen, denkenden, seelischen Aspekt der Musik jungen Leuten beibringen.
Ihre Akademie hat eine ganz klare politische Ausrichtung. Weshalb?
Barenboim: Das ist nicht Politik, das ist Anti-Politik! Politik wäre zu sagen, ich nehme Partei für den Einen oder für den Anderen. Ich sage, wir sind nicht in politischen Verhandlungen. Wir müssen jetzt versuchen, den Anderen zu verstehen und ihn anzuerkennen.
Geht für Sie aus der deutschen Hauptstadt eine politische Botschaft in Richtung Nahost?
Barenboim: Ja, ich bin natürlich der deutschen Regierung sehr dankbar für die finanzielle Hilfe. Denn damit sagt sie: "Hier ist eine schwere Situation. Wir müssen alle in diesem Konflikt helfen. Nicht Einer gegen den Anderen."
Ich bewundere sehr, wie mehrere Generationen der Deutschen sich mit der Vergangenheit auseinandergesetzt haben. Sonst könnte ich hier als Jude nicht leben. Aber jetzt müssen wir auch über die Gegenwart und über die Zukunft nachdenken und da hat Deutschland aus meiner Sicht möglicherweise sogar eine zusätzliche Verantwortung.
Die Barenboim-Said-Akademie in Berlin will in fünf Jahren bis zu 80 Studenten aus der arabischen Welt und aus Israel in Berlin ausbilden. Das Projekt, das dem zu Grunde liegt, ist Ihr West-Eastern Divan Orchestra. Was wünschen Sie sich für dessen Zukunft?
Barenboim: Die volle Dimension des Divans wird erst kommen, wenn das Orchester in allen Ländern spielt, die im Orchester repräsentiert sind. Wenn wir also eine Tournee machen und in Istanbul, Beirut, Damaskus, Tel Aviv, Amman, Jerusalem, Ramallah und Kairo spielen - dann hat der Divan sozusagen die volle Dimension erreicht.
Peter Zimmermann
© Deutsche Welle 2012
Als einzigartige Bildungseinrichtung will die Barenboim-Said-Akademie in Berlin Musikerziehung, Geisteswissenschaften und internationale Beziehungen miteinander in einem allumfassenden Lehrplan verbinden. Der zweite Namensgeber ist der palästinenische Professor Edward Said, mit dem Barenboim das West-Eastern Divan Orchestra mitbegründete.
Im einstigen Kulissendepot der Staatsoper Unter den Linden sollen für die Stipendiaten aus Israel und den arabischen Staaten Klassenzimmer und Übungsräume geschaffen werden. Stararchitekt Frank Gehry und Akustiker Yasuhisa Toyota entwerfen unentgeltlich den bis zu 800 Plätze umfassenden "Pierre-Boulez"-Konzertsaal, der von Mitgliedern des West-Eastern Divan Orchestra und der Staatskapelle Berlin für Konzerte zeitgenössischer Musik genutzt werden soll. Der Deutsche Bundestag hat bereits 20 Millionen Euro für die Akademie bewilligt. Weitere acht Millionen kommen von Privatspendern.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de