Musik als Wegbereiter eines transkulturellen Dialogs

Das Repertoire des Orchesters umfasst symphonische Werke, Opern und Kammermusik. Zu den Konzerthöhepunkten zählen Auftritte in der Berliner Philharmonie oder dem Mailänder Teatro alla Scala. Das Orchester ist regelmäßig zu Gast bei den BBC Proms und den Festspielen in Salzburg und Luzern.
Das Repertoire des Orchesters umfasst symphonische Werke, Opern und Kammermusik. Zu den Konzerthöhepunkten zählen Auftritte in der Berliner Philharmonie oder dem Mailänder Teatro alla Scala. Das Orchester ist regelmäßig zu Gast bei den BBC Proms und den Festspielen in Salzburg und Luzern.

Wie lassen sich die Performance-Kunst von Yoko Ono, die vorkolonialen Rhythmen Afrikas oder die Musik christlicher Missionare in Japan mit den Begriffen Edward Saids besser verstehen? Diesen Fragen ging die Berliner Barenboim-Said Akademie anlässlich des 20. Todestages von Edward Said nach. Von Ceyda Nurtsch

Von Ceyda Nurtsch

Es war eine Hommage an einen der einflussreichsten Intellektuellen des ausgehenden 20. Jahrhunderts und eine Würdigung der Freundschaft zweier Friedensbotschafter, deren fruchtbare Zusammenarbeit ein einzigartiges Projekt der Völkerverständigung hervorgebracht hat. Mit den diesjährigenEdward Said Days“ zum 20. Todestag des palästinensisch-amerikanischen Literaturwissenschaftlers eröffneten die Berliner Barenboim-Said Akademie und der Pierre Boulez Saal am 26.08.23 ihre Spielzeit 2023/24.

Wie haben Kolonialismus und die Nachwirkungen kolonialer Begegnungen den „westlichen“ Blick auf musikalische Praktiken aus anderen Teilen der Welt geprägt? Wie resoniert die Performance-Kunst von Yoko Ono mit den Begriffen von Said? Wie dient sein Begriff des „Kontrapunkts“ dem Verständnis der Repräsentation von Aufführungspraktiken christlicher Missionare im Japan des 16. Jahrhunderts?

Fragen wie diese an der Schnittstelle von Kolonialismus und Musik, beides zentrale Aspekte in Saids Werk, gingen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Vorträgen und Diskussionsrunden während des zweitägigen Symposiums nach. Kuratiert wurde die Veranstaltung von Regula Rapp, Rektorin der Barenboim-Said Akademie, und James Helgeson, Professor für Musikwissenschaft und Komposition.

Am Schnittpunkt von Kolonialismus und Musik

Saids in 30 Sprachen übersetztes Werk „Orientalismus“ (1978) gilt als eines der einflussreichsten und meist rezipierten Sachbücher der jüngeren Wissenschaftsgeschichte. Mit den Methoden Michel Foucaults analysiert er darin den europäischen Blick auf die Gesellschaften des Nahen Ostens, das westliche Überlegenheitsgefühl und die Konstruktion eines Orients, den es so nie gab.

Prof. Dr. Regula Rapp, Rektorin der Barenboim-Said-Akademie. (Foto: Peter Adamik)
„Die Barenboim-Said Akademie entstand aus der engen Freundschaft zwischen Edward Said und Daniel Barenboim heraus, deren Traum von einem Konservatorium, das musikalische Ausbildung mit einem fundierten geisteswissenschaftlichen Unterricht in Philosophie und anderen Fächern verbindet, durch die Gründung der Akademie Wirklichkeit wurde“, so Regula Rapp, Rektorin der Barenboim-Said-Akademie.

Doch Said war mehr als eine prominente kritische Stimme. Als profunder Kenner von Musik, Literatur, Philosophie und Politik gehörte er, so Daniel Barenboim, „auch zu den besonderen Menschen, die die Verbindungen und Parallelen zwischen unterschiedlichen Disziplinen erkennen.“ Er habe erkannt, dass Parallelen und Paradoxe keine Widersprüche seien.

Said, selbst an der Juilliard School ausgebildet und ein geschätzter Musikkritiker, übertrug Interpretationsmethoden aus der Literatur auf Bereiche wie Geschichte und Musik. Seine theoretischen Ansätze sind daher eine wichtige Inspirationsquelle für Musikwissenschaftler, die sich mit dem Austausch im Rahmen kolonialer und imperialer Kontakte sowohl in der Geschichte als auch in der Gegenwart auseinandersetzen.

Andalusien als Beispiel für Koexistenz

Den Grundtenor dieser wissenschaftlichen Beschäftigung, wie auch der Arbeit der Barenboim-Said Akademie, unterstrich Prof. Dag Nikolaus Hasse von der Universität Würzburg anhand von Saids Einschätzung Andalusiens. Said habe in der islamischen, jüdischen und christlichen Geschichte Spaniens ein Modell für Tradition und Überzeugung gesehen. Gleichzeitig warnte er davor, Andalusien als verlorenes Paradies zu idealisieren.

Bei der Untersuchung der Aspekte, die tatsächlich als Modelle für multiethnische Städte der Zukunft dienen können, resümierte Hasse: „Es gibt etwas in Andalusien, das wir verloren haben. Das scheint mir die wichtigste Lehre aus der Vergangenheit zu sein.“ Das Modell Andalusiens und des osmanischen Nahen Ostens zeigte, dass Routinen des Respekts wichtig seien und dass sie umsetzbar seien. „Das ist die Ermutigung. Und es hat schon damals funktioniert. Wir können an der Koexistenz arbeiten, sowohl in der höchsten Form unserer Kulturen als auch im täglichen Leben. Das können wir von Andalusien und von Edward Said lernen.“

Die Begegnung mit dem Anderen

Ein wesentlicher Aspekt in Saids Werk ist die Begegnung mit dem Anderen. Den methodischen Ansatz dafür liefert Said selbst, der den musikalischen Begriff des „Kontrapunkts“, der Kombination von mehreren melodisch und rhythmisch voneinander unabhängiger aber harmonisch verbundener Stimmen, auf andere Bereiche außerhalb der Musik übertrug. Etwa auf seine Beschreibung des Lebens eines Exilanten.

Ausgehend von diesem Begriff fragte Makoto Harris Takao von der University of Illinois nach der Repräsentation von Aufführungspraktiken jesuitischer Missionare im Japan des 16. Jahrhunderts. Parallelen zu Saids Denken fand Brigid Cohen von der New York University hingegen in der Performance-Kunst von Yoko Ono, etwa in ihrem Stück Cut Piece (1964), das als Protest gegen die Bombardierung Hiroshimas interpretiert wurde und das interagierende Publikum mit Onos asiatischem Körper konfrontierte, „von dem sie nicht wussten, was sie von ihm halten sollten“; so Ono.

Über Musik im Kontext globalen kolonialen Kontakts diskutierten Dr. Makoto Harris Takao, University of Illinois, Prof. Dr. Brigid Cohen, New York University, Dr. Clara Wenz, Universität Würzburg, Prof. Dr. James Helgeson. (Foto: Peter Adamik)
Über Musik im Kontext globalen kolonialen Kontakts diskutierten Dr. Makoto Harris Takao, University of Illinois, Prof. Dr. Brigid Cohen, New York University, Dr. Clara Wenz, Universität Würzburg, Prof. Dr. James Helgeson.

Ausgehend von Saids Theorie des Postkolonialismus erörterten weitere Vorträge kulturelle Aneignung, Repräsentation und gegenseitige Beeinflussung am Beispiel Kairos, die Analyse musikalischer Techniken im vorkolonialen Afrika und Saids Auseinandersetzung mit der Oper. Kofi Agawu, Distinguished Professor am Graduate Center der City University of New York, rief in seinem Abschlussvortrag die Musikwissenschaft dazu auf, sich mit der afrikanischen Kunstmusik zu beschäftigen, die ein noch unbekanntes Feld voller Entdeckungspotenzial darstelle.

Abgerundet wurden beide Tage jeweils von einem Konzert des West-Eastern Divan Orchestra unter der Leitung von Daniel Barenboim, der das Orchester 1999 gemeinsam mit Edward W. Said gründete. 

Das West-Eastern Divan Orchestra: Vom Experiment zur Weltklasse

Die Freundschaft zwischen dem 1935 geborenen palästinensisch-amerikanischen Literaturwissenschaftler Edward Said und dem 1942 geborenen argentinisch-israelischen Pianisten und Stardirigenten Daniel Barenboim war kurz, aber intensiv und von großer Wirkung. Beide teilten die Überzeugung, dass Frieden zwischen Israelis und Palästinensern möglich ist und dass gerade die Musik einen transkulturellen Dialog ermöglicht.

Ihr reger, auch öffentlicher Austausch über Kunst, Politik, Paradoxien und Parallelen des Lebens, den sie bis zu Saids Tod 2003 pflegten, und ihre gemeinsame Utopie manifestierten sich in der Gründung des West-Eastern Divan Orchestra (WEDO) für junge arabische und israelische Musiker.

 

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Was 1999 als Experiment des „gegenseitigen Zuhörens“ begann, ist heute ein weltweit renommierter Klangkörper, der in den größten Häusern auftritt, wie der Royal Albert Hall in London oder bei den Salzburger Festspielen, ohne dabei seine Botschaft aus den Augen zu verlieren.

„Wir sind überzeugt, dass das Schicksal dieser beiden Völker, des palästinensischen und des israelischen Volkes, untrennbar miteinander verbunden ist und dass es unser aller Pflicht ist, einen Weg zu finden, um miteinander zu leben. Denn entweder töten wir uns gegenseitig oder wir lernen zu teilen, was es zu teilen gibt. Mit dieser Botschaft sind wir heute zu Ihnen gekommen“, so Barenboim beim Ramallah-Konzert 2005 des WEDO.

Das moralisch-musikalische Dreieck

In diesem Sinne entstand 2015 die Barenboim-Said Akademie. Sie bildet begabte Musikerinnen und Musiker vor allem aus dem Nahen Osten und Nordafrika aus und legt Wert auf eine umfassende, auch geisteswissenschaftliche, Ausbildung. Für ihre Verdienste um die israelisch-palästinensische Aussöhnung wurden Barenboim und Said 2002 mit dem Prinz-von-Asturien-Preis ausgezeichnet. Das WEDO wurde 2016 als erstes Orchester weltweit von der UN zum „Global Advocate for Understanding“ ernannt.

Dass sich die Barenboim-Said Akademie in einen größeren historischen Kontext der arabisch-jüdischen Begegnung in Berlin einordnen lässt, machte der Vortrag von Clara Wenz von der Universität Würzburg bei den Edward Said Days deutlich. Demnach steht die Barenboim-Said Akademie in einer Tradition mit Begegnungsstätten wie der libanesischen Plattenfirma Baidaphon oder der Sherbini-Bar, einem Jazzclub ägyptischer Exilanten und Treffpunkt von Bohemiens im Berlin der 20er Jahre, und gedeiht so in einem moralischen wie musikalischen Dreieck.

Ceyda Nurtsch

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