Politischer Aktivismus durch Kunst
Am 30. Juli 2018 rückten die Vereinten Nationen das Problem des Menschenhandels ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit. Inwiefern ist Menschenhandel in Mauretanien heute noch ein Problem?
Saleh Lô: Für mich ist Sklaverei nicht von der Definition von Menschenhandel der Vereinten Nationen zu trennen. Praktiken des Sklavenhandels sind auch heute noch in Mauretanien vorzufinden. Sklavinnen und Sklaven der Gegenwart werden in Mauretanien "Haratin" genannt. Die Herkunft des Wortes ist unklar. Vermutlich stammt es von dem Wort der Berber für dunkel oder schwarz – bezogen auf ihre Hautfarbe – oder von dem arabischen Begriff für "Menschen zweiter Klasse".
Die Wurzeln der modernen Sklaverei gehen auf das alte Herrschaftsverhältnis von Meister und Sklave zurück und drücken sich heute in Form von unbezahlter Arbeit aus. "Haratin" arbeiten für "weiße Mauren" oder "beidani" ("weiße") Meisterfamilien; Beispielsweise als Viehhirten oder Haushaltshilfen.
Kaum bekannt ist jedoch, dass die traditionellen Kastensysteme und die Sklaverei auch in Gemeinschaften der "Schwarzen" in Mauretanien bestehen, den sogenannten Peul, Soninké und Wolof. Obwohl die Sklaverei 1981 von der mauretanischen Regierung offiziell abgeschafft wurde und seit 2007 auch gesetzlich verboten ist, bestehen die sklavenähnlichen Bedingungen auch weiterhin. Die Täter werden meistens nicht verfolgt. Außerdem werden "Haratin" häufig Opfer von Rassismus und müssen, da sie ein niedriges Bildungsniveau haben, darum kämpfen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Zu allem Übel kommt dann noch die schlechte wirtschaftliche Lage Mauretaniens hinzu.
In Ihren Arbeiten porträtieren Sie befreite Sklaven. Wo haben Sie diese Menschen kennengelernt?
Lô: Seit 2014 arbeite ich eng mit befreiten Sklavinnen und Sklaven zusammen, sowie mit Menschen, die sich gegen die Sklaverei engagieren. Zu Beginn meiner Recherche setzte ich mich mit der mauretanischen radikalen Anti-Sklaverei-Organisation "Initiative for the Resurgence of the Abolitionist Movement" (IRA) in Verbindung und begleitete sie auf ihren Demonstrationen in der mauretanischen Hauptstadt Nouakchott.
Dabei lernte ich etwa zehn Aktivistinnen und Aktivisten kennen, die mir wiederum den Kontakt zu 25 befreiten Sklavinnen und Sklaven herstellten. Diese erlaubten mir, sie zu Hause zu besuchen, zu interviewen und Porträtaufnahmen von ihnen zu machen. Die Fotos nutzte ich dann, um die Porträts zu malen. Der Ausdruck in ihren Augen zeigt sowohl ihre Traurigkeit, als auch ihren Stolz, endlich frei zu sein.
Wie reagierten die Menschen, die Sie porträtiert haben?
Lô: Im Jahr 2016 stellte ich meine Reihe "Libre ou esclave", was übersetzt "Frei oder Sklave" heißt, im Französischen Kulturinstitut von Nouakchott aus. Hierfür hatte ich acht befreite Sklavinnen und Sklaven sowie mehrere IRA-Aktivistinnen und -Aktivisten während Demonstrationen gemalt. Zur Ausstellungseröffnung lud ich alle Porträtierten sowie weitere 150 Aktivistinnen und Aktivisten ein, die ich im Verlauf meiner Recherche getroffen hatte. Die Eröffnung war ein sehr emotionaler Moment, sowohl für sie, als auch für mich. Sie waren stolz darauf, dass ihre Geschichte endlich einem größeren Publikum in Mauretanien erzählt wurde.
Außerdem war es das erste Mal für sie, dass sie eine Kunstausstellung besuchten. Diese Menschen zu porträtieren bedeutet für mich, sie wertzuschätzen. Es hilft, ihre Würde wiederherzustellen. Ich wollte ihnen, sowie den Besucherinnen und Besuchern der Ausstellung, zeigen, dass politischer Aktivismus auch durch Kunst und Dialog ausgedrückt werden kann. Protest muss nicht zwangsweise gewalttätig sein, um erfolgreich zu sein.
Wie kamen Sie auf die Idee, mit Ihrer Kunst das Problem der Sklaverei anzusprechen?
Lô: In dem Slum in Nouakchott, in dem ich aufwuchs, spielte ich mit Kindern aus verschiedenen ethnischen Gemeinschaften und sozialen Schichten. Unter ihnen waren auch "Haratin"-Kinder, deswegen habe ich schon als kleiner Junge Fragen über Sklaverei gestellte.[embed:render:embedded:node:16981]Als ich vier Jahre alt war passierte außerdem etwas, das mein Interesse daran, zum Thema Sklaverei zu arbeiten, enorm beeinflusste. Damals ist meine Familie in einen neuen Stadtteil gezogen. Eines Tages haben mein Bruder und ich uns beim Spielen verlaufen. Also haben wir eine "weiße Moorish", eine Frau aus der herrschenden Kaste in Mauretanien, nach dem richtigen Weg gefragt. Doch anstatt uns zu helfen, fragte sie uns, ob wir als ihre Söhne bei ihr leben wollen würden. Mein Bruder und ich waren sehr verängstig und liefen davon.
Als wir schließlich zu Hause ankamen, erzählten wir unserer Mutter von der Frau. Sie war richtig sauer auf uns, denn sie wusste, was diese Frau im Schilde geführt hatte: Die Frau wollte uns bei sich behalten, bis wir alt genug waren, um für sie zu arbeiten. Dieses Erlebnis hat sich in meinen Erinnerungen eingebrannt. Es zeigte mir, wie real Sklaverei noch heute in Mauretanien ist und dass es ein Problem ist, das uns alle betrifft. Daraus schöpfe ich meine Motivation, zu diesem Thema zu arbeiten. Aller Schwierigkeiten und Drohungen, die ich erhielt, zum Trotz.
Menschenrechtsaktivisten schätzen, dass in Mauretanien etwa 100.000 Personen in Sklaverei leben. Gibt es in der mauretanischen Gesellschaft organisierten Widerstand dagegen?
Lô: Zunächst ist es sehr schwierig, die tatsächliche Zahl der Menschen, die in Mauretanien unter Bedingungen von Sklaverei leben, zu beziffern. Die Regierung vertritt die Position, dass die Zeit der Sklaverei vorbei ist und nur noch einzelne Nachwirkungen bekämpft werden müssen. Viele Wissenschaftler, Aktivistinnen und Aktivisten sowie internationale Organisationen, wie zum Beispiel die Vereinten Nationen, sind anderer Meinung. Wiederholt haben sie die mauretanische Regierung dazu aufgefordert, die geltenden Gesetze zum Schutz der Opfer und zur Bestrafung der Täter umzusetzen.
Die zwei größten Anti-Sklaverei-Organisationen in Mauretanien sind SOS Esclaves und IRA. Der Unterschied zwischen ihnen ist die Tatsache, dass nur SOS Esclaves eine registrierte Nichtregierungsorganisation ist. IRA definiert sich hingegen als eine politische Bewegung, die konkrete Maßnahmen bevorzugt, um ihre Ziele – Gerechtigkeit für die Opfer von Sklaverei – zu erreichen.
Was möchten Sie mit Ihrer Arbeit erreichen?
Lô: Die Menschen, die ich porträtiert habe, leiden unter Diskriminierung und Nichtbeachtung. Niemand aus der Oberschicht Mauretaniens würde je daran denken, einen Fuß in ihre Nachbarschaft zu setzen. Wenn sie an einer Person, die versklavt wurde, oder an einer Demonstration vorrübergehen, zeigen sie ihre Respektlosigkeit oder schauen einfach in eine andere Richtung.
Wenn ich die Porträts in der Öffentlichkeit ausstelle, will ich, dass die Menschen die ehemaligen Sklavinnen und Sklaven anschauen. Man betrachtet ein Porträt anders, als wenn man einer Person direkt auf der Straße begegnet. Deshalb ist meine Arbeit für mich dann ein Erfolg, wenn ich etwas von der Würde der kaum beachteten Menschen wiederherstellen kann, egal ob von ehemaligen Sklavinnen und Sklaven oder von Straßenkindern. Ich erzähle ihre Geschichten durch meine Kunst.
Interview: Siri Gögelmann und Wolfgang Kuhnle
© Institut für Auslandsbeziehungen (ifa)