''Ein abgeschotteter Islam gefährdet mehr Muslime als Christen''
Was hat die Jury dazu bewegt, Ihnen den Deutschen Medienpreis zu verleihen?
Raheb: Die Jury hat mir den Preis für die Arbeit verliehen, durch die wir uns seit 16 Jahren für die Schaffung von Räumen der Hoffnung und des Dialoges in Palästina einsetzen. Wir haben ursprünglich als ganz kleines Unternehmen mit nur einem Beschäftigten begonnen, haben uns aber im Laufe der letzten 16 Jahre zum drittgrößten Arbeitgeber in Bethlehem mit mehr als 100 Mitarbeitern im "Diyar"-Konsortium entwickelt. Mehr als 60.000 Menschen nehmen an den Programmen der Gruppe teil.
Außerdem haben wir das "Dar al-Kalima"-College als erste Fachhochschule für Theater, Musik und Filmkunst in Palästina sowie das erste Kongresszentrum Bethlehems gegründet, um die Stadt zu einem attraktiven Ziel für internationalen Konferenztourismus zu machen. Des Weiteren sind ein Theater, ein Kino, mehrere Schulen und Sportvereine entstanden. Viel wichtiger als diese nackten Fakten finde ich jedoch, dass es uns gelungen ist, junge Palästinenser aus dem Ausland heimzuholen, die an den Aufbau des Landes und der Gesellschaft glauben.
Worin besteht die Arbeit des Diyar-Konsortiums?
Raheb: Wir arbeiten in drei Schwerpunktbereichen: Im Kulturbereich, weil dieser unmittelbar mit der Identität zusammenhängt. Wir wollen eine dynamische palästinensische Identität herausarbeiten.
Gleiches gilt für den Bereich der Schul- und Hochschulbildung, der Bildung junger Führungseliten. Außerdem verfügen wir inzwischen über einen eigenen Verlag, der Bücher zu Themen der Zivilgesellschaft, der Kultur und Frauenfragen herausgibt.
Welche Bedeutung hat der Preis für Sie persönlich?
Raheb: Ich stelle damit ein steigendes Interesse an der Palästinafrage fest. Was hier in Palästina geschieht, wird intensiv wahrgenommen und mitverfolgt. Der Preis ist für mich wie eine Ehrung des gesamten palästinensischen Volkes. Ich bin zwar zuvor bereits mit anderen Preisen ausgezeichnet worden, doch dieser Preis ist besonders wichtig, weil er von Deutschlands Geld- und Unternehmensprominenz verliehen wird.
Es gab auch Kritik an der Preisvergabe. Wie erklären Sie sich die?
Raheb: Ich wurde vonseiten des pro-israelischen Lagers in Deutschland scharf angegriffen, das verlangte, mir solle der Preis wieder aberkannt werden. Doch viele Persönlichkeiten aus Kirche und Politik in Deutschland, darunter auch prominente Vertreter der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, erhoben ihre Stimme, um mein Anspruch auf den Preis zu verteidigen.
Hintergrund der Anfechtungen war mein Kritik an der israelischen Besatzungspolitik und natürlich die Tatsache, dass ich dies als arabischer Christ tue und mich vor allem für die Existenzsicherung von Christen in Palästina einsetze.
Vor kurzem ist Ihr Buch "Der Arabische Frühling und die Christen des Nahen Ostens" erschienen. Welche Prognose stellen Sie darin?
Raheb: Ich versuche mit dem Buch eine Bestandsaufnahme der Ereignisse in der arabische Welt und deren Auswirkungen auf die Christen. Viele Christen sind besorgt über die Entwicklungen in der arabischen Welt, weil sie ein Abgleiten in Chaos und Instabilität wie im Irak fürchten.
Tenor des Buches ist vor allem die Aussage, dass die Christen in der arabischen Welt sich nicht alle über einen Kamm scheren lassen. Vielmehr sind manche für, andere gegen den Arabischen Frühling und wieder andere hegen quasi als "Peptimisten" gemischte Gefühle.
Das Buch will auch dazu beitragen, eine arabische Perspektive des Orients aufzuzeigen, die sich auf die Achtung der Pluralität gründet. Ich meine damit, dass die Christen nur dann eine Zukunft in der Region haben, wenn es die Muslime auch haben. Und umgekehrt würden die Muslime ohne Christen in eine viel düsterere Zukunft blicken. Das heißt, es muss eine Formel gefunden werden, in der sich jede/-r BürgerIn in seiner Freiheit und Würde geachtet fühlt.
Viele Europäer befürchten eine Machtübernahme durch islamistische Gruppierungen in der arabischen Welt. Sind derartige Befürchtungen Ihrer Ansicht gerechtfertigt?
Raheb: Ich glaube schon, dass islamistische Strömungen stark im Kommen sind. Aber die eigentlich bedeutende Frage ist doch die, welche Art politischer Islam letztlich die Oberhand in der arabischen Welt behalten wird.
Der politische Islam kennt vielerlei Ausprägungen: das türkische, das saudische, das afghanische oder etwa das Dubaier Modell. Die Frage ist also vor allem: Welcher politische Islam wird die Länder des Arabischen Frühlings beherrschen? Und: wird es ein pluralistischer, offener oder ein abgeschotteter Islam sein? Ein hermetisch abgeriegelter Islam ist nicht nur für die Christen gefährlich, sondern auch für die Muslime selbst. Die Muslime wären ganz allgemein ohne die arabischen Christen zivilisatorisch-kulturell ärmer und weniger pluralistisch. Pluralismus ist etwas Positives, das die arabische Welt braucht.
Glauben Sie, dass wir nun infolge dieser historischen Umwälzungen auf einen islamisch-christlichen Konflikt zusteuern?
Raheb: Ich bin kein Anhänger der These vom islamisch-christlichen Konflikt. Für mich ist das eine westliche Sicht auf die Dinge hier. Es ist falsch, polarisierend von Konflikt und Koexistenz zu sprechen.
Uns geht es um eine pluralistische Zivilgesellschaft, in der Freiheiten geachtet werden, ganz gleich, von welcher Religion sie geprägt ist. Wir haben nur die eine Option, nämlich eine gemeinsame Zukunft zu schaffen.
Kann Religion bei der Lösung des palästinensisch-israelischen Konflikts auch eine positive Rolle spielen?
Raheb: Bedauerlicherweise halte ich viele der Ausprägungen von Religion in der Region für nicht positiv, seien sie nun christlich, muslimisch oder jüdisch. Religiosität gilt mittlerweile leider immer mehr als Synonym für Fanatismus.
In der Bibel gibt es hierzu ein sehr interessantes Zitat: "Wer sagt, dass er Gott liebt, aber seinen Bruder hasst, ist ein Heuchler." Leider kommt Religion nun auch immer mehr im Gewand des Tribalismus und des Konfessionalismus daher. Man hört jetzt immer: Ich bin Christ, ich bin Sunnit, ich bin Schiit. Für mich schließen sich derartige Abgrenzungen und Glauben gegenseitig aus.
Echter Glaube dagegen bedeutet, gleichzeitig Gott und seinen muslimischen Bruder zu lieben, der wiederum seinen christlichen Bruder liebt. Viele Phänomene, die den weiten Deckmantel der Religion für sich beanspruchen, sind eigentlich tribalistischer oder politischer Natur. Religion verkommt hier lediglich als Mittel zum politischen Zweck. Wenn jedoch alle sogenannten Gläubigen wirklich ein Gewissen hätten, ist echter Glaube dagegen tatsächlich hilfreich – ob bei der Verankerung des Friedens und der Lösung des Konflikts.
Bethlehem gilt allgemein als gelungenes Beispiel für das christlich-islamische Zusammenleben. Warum?
Raheb: Es basiert auf einer gemeinsamen Geschichte, auf gutnachbarschaftlichen Beziehungen zwischen Christen und Muslimen. In vielen unserer Schulen lernen auch Muslime. Diese Beziehungen im Alltag und unter Klassenkameraden bilden das Rückgrat des Zusammenlebens.
Interview: Muhannad Hamed
Aus dem Arabischen von Nicola Abbas
© Qantara.de 2012
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de