Die Gesellschaft ist für Veränderungen längst bereit
Frau al-Rasheed, Sie haben etwas gegründet, das es in Wirklichkeit gar nicht gibt: eine saudische politische Partei. An wen wenden Sie sich damit?
Madawi al-Rasheed: Es ist sehr wohl eine Partei. Wir sind eine Gruppe Akademiker*innen und Aktivist*innen im Exil und haben beschlossen, dass es an der Zeit ist, eine politische Partei zu gründen. Unsere Hauptbotschaft geht an die Menschen in Saudi-Arabien. Wir fordern, Demokratie als politisches System einzuführen und die absolute Monarchie zu ersetzen.
Sie nennen Ihre Gruppierung 'Partei der Nationalversammlung' oder auch NAAS. Welchen rechtlichen Status hat sie?
Al-Rasheed: Eines unserer ersten Ziele ist es, die Partei in Großbritannien als Non-Profit-Organisation zu registrieren, denn zwei von uns leben in London.
Werden Sie die Gruppierung auch nach saudischem Recht anmelden?
Al-Rasheed: Politische Parteien sind in Saudi-Arabien verboten. Momenten ist es unmöglich, in Saudi-Arabien irgendeine Art von politischem Aktivismus zu betreiben. Es gibt keine Plattform, keinerlei Forum, um Ideen auszutauschen und eine bessere Zukunft zu entwerfen.
In Ihrer Gründungserklärung fordern Sie ein gewähltes Parlament, Gewaltenteilung, eine unabhängige Justiz und Rechtsstaatlichkeit. Ist das ein Aufruf zur Revolution?
Al-Rasheed: Das ist Sache des Volkes, aber ein Aufruf zur Revolution ist es nicht. Wir haben nicht dazu aufgefordert, auf die Straße zu gehen, sondern versuchen, die Menschen friedlich zu mobilisieren mit einer Strategie, die den engen Spielraum für politischen Aktivismus anerkennt. Angesichts der Repression wäre es unethisch, die Menschen in Saudi-Arabien aufzufordern, sich in Lebensgefahr zu bringen. Leute sind verhaftet worden, nur weil sie kritische Meinungen getweetet haben.
Bei so wenig Spielraum in Saudi-Arabien, was genau haben Sie mit NAAS dann vor?
Al-Rasheed: Wir wollen den Saudis eine alternative Informationsquelle zur Verfügung stellen, Informationen über innenpolitische Fragen, die Wirtschaft, Arbeitslosigkeit oder neue Steuern. Unser Ziel ist es, das Bewusstsein dafür zu schärfen, was Demokratie bedeutet. Die Begriffe "Demokratie" und "politische Partei" sind in Saudi-Arabien tabu. Demokratie wird als Blasphemie gesehen, die vom Westen kommt und unser frommes Volk korrumpiert. Politische Parteien werden als Schisma betrachtet, das zu Zwietracht und Chaos führt. Unserer Meinung nach ist die Forderung nach Demokratie der einzige Weg, unsere Gesellschaft vor einer Zersplitterung und vor Machtkämpfen innerhalb der Herrscherfamilie zu retten.
Saudi-Arabien durchlebt schwierige Zeiten. Der Ölpreis ist auf einem historischen Tiefstand und die Wirtschaft nach wie vor stark von Öleinnahmen abhängig. Die Schuldenlast steigt. Ist das Königreich noch stabil?
Al-Rasheed: Das Land steht vor zwei Herausforderungen: Die erste ist der Zyklus der Öleinnahmen, also der Anstieg und Fall der Ölpreise, der seit einem halben Jahrhundert andauert. Die zweite ist Covid-19. Höchstwahrscheinlich wird Kronprinz Mohammed bin Salman nach dem Tod von Salman König werden. Aber er wird in Angst leben, denn es ihm nicht gelungen, einen Konsens innerhalb der königlichen Familie zu sichern. MBS regiert mit Gewalt. In den letzten drei Jahren sind immer wieder Prinzen inhaftiert worden. Darüber hinaus fehlt ihm die Unterstützung der saudischen Finanzelite sowie der traditionellen Elite, die Staat und Regierung in der Vergangenheit immer unterstützt hat. Das wird zu Unklarheiten auf höchster Ebene führen und könnte ein Machtvakuum schaffen.
In der internationalen Berichterstattung ist seit dem Aufstieg von MBS ein Narrativ zu beobachten, wonach in Saudi-Arabien ein positiver Wandel stattfindet: Das Land öffnet sich für Touristen. Konzerte und Kinos werden wieder eingeführt. Am prominentesten aber ist das Thema Frauen am Steuer: 2017 gewährte die Regierung Frauen endlich das Recht, Auto zu fahren.
Al-Rasheed: Um das zu verstehen, müssen wir ins Jahr 2011 zurückgehen, als die arabische Welt begann, politischen Wandel einzufordern. Seitdem versuchen König Salman und MBS, das Image Saudi-Arabiens umzukehren. Insbesondere MBS wurde als Lösung gesehen. Er ist jung und es sieht aus, als befürworte er liberale Reformen. Aber in Wirklichkeit hat er eine Konterrevolution gestartet. Dabei musste er das tun, was dem Westen gefällt. Und hier kommen die Forderungen saudischer Frauen und Männer ins Spiel: Frauen am Steuer oder die zunehmende Berufstätigkeit von Frauen. MBS hat genau das getan, wofür die Saudis gekämpft haben. Der Widerspruch ist: Während er Reformen in die Wege leitet, sperrt er diejenigen Aktivist*innen ins Gefängnis, die ebendiese Reformen gefordert haben.
Ermächtigt MBS Saudi-Arabiens Frauen?
Al-Rasheed: Nein, das Regime nutzt Frauen als Symbole von Modernität. Indem es Frauen auf bestimmte Posten beruft, ermächtigt es sie nicht. MBS hat Frauen in äußerst sichtbare Positionen gesetzt, um zu zeigen, wie fortschrittlich das Regime ist. Schauen Sie sich Reema bint Bandar an, die saudische Botschafterin in Washington. Warum ist dort eine Prinzessin in Washington, während Loujain al-Hathloul, eine junge saudische Aktivistin, immer noch im Gefängnis sitzt? Berufung ist kein Empowerment. Es bleiben ernsthafte Probleme bestehen, die angegangen werden müssen, etwa das Recht auf freie politische Meinungsäußerung.
Loujain al-Hathloul hat sich unter anderem für das Recht auf Autofahren eingesetzt und ein Ende des Systems der männlichen Vormundschaft in Saudi-Arabien gefordert. Warum gilt jemand wie sie als gefährlich?
Al-Rasheed: Die feministische Bewegung hat eine wichtige Kluft in der saudischen Gesellschaft überwunden. Sie ist weder eine regionale oder tribale noch eine konfessionelle oder islamistische Opposition, sondern findet Anklang in einem breiten Teil der Gesellschaft. Diese Aktivist*innen haben nationale Politik gemacht und Menschen aus unterschiedlichen Milieus mobilisiert, um politische und bürgerliche Rechte sowie Gendergerechtigkeit einzufordern.
Viele in Saudi-Arabien haben mir erzählt, man müsse, wenn man wirklich etwas verändern wolle, langsam vorgehen - in Übereinstimmung mit der tribal geprägten konservativen islamischen und arabischen Tradition des Landes. Was halten Sie davon?
Al-Rasheed: Am 23. September hat das Regime den neunzigsten Jahrestag der Gründung des saudischen Staates gefeiert. Neunzig Jahre sind eine lange Zeit und wir haben immer noch keine Institution, die das Volk vertritt. Wir haben keine Nationalversammlung, sondern einen ernannten Konsultativrat. Wir haben keine gewählte Regierung. Wir haben keine Meinungs- oder Versammlungsfreiheit. Wie lange sollen wir warten? Weitere neunzig Jahre?
Aber ist allmählicher Wandel nicht besser als kein Wandel?
Al-Rasheed: Okay, man hat Frauen erlaubt, sich Fußballspiele anzusehen. Aber das kann man doch überall. Allmähliche Veränderung ist ein Mythos, die saudische Gesellschaft ist bereit! Sehen Sie sich die politischen Gefangenen an. In den letzten zwanzig Jahren haben so viele Saudis Petitionen unterschrieben und sind im Gefängnis gelandet. Saudis sind in der Lage, sich eine bessere Zukunft vorzustellen. Aber es gibt keinerlei Diskussion über politische Reformen. MBS hat es geschafft, Journalisten, vor allem im Westen, und PR-Firmen dazu zu bringen, seine Reformen zu promoten, als wären sie das Ende. Seine Reformen, so das Narrativ, seien, was die Saudis verlangt hätten. Aber was ist mit denen, die im Gefängnis sitzen, nur weil sie sich beispielsweise gegen Folter ausgesprochen haben?
Im Oktober vor zwei Jahren wurde Jamal Khashoggi in Istanbul von saudischen Agenten getötet, was einen internationalen Aufschrei auslöste. Welche Folgen hatte der Mord für Saudi-Arabien?
Al-Rasheed: Das war der Mord des Jahrhunderts. Er hat Saudi-Arabien einen irreparablen Schaden zugefügt. MBS geht tatsächlich die Propaganda aus, um das Vertrauen in seine Führung wiederherzustellen.
Viele beschuldigen ihn, hinter dem Mord zu stecken. Allerdings haben wir noch immer keine Beweise gesehen, dass MBS von dem Plan tatsächlich wusste oder den Mord gar persönlich anordnete. Was ist ihre Deutung der Geschehnisse damals in Istanbul?
Al-Rasheed: Khashoggi war nicht nur Journalist. Man muss sich von dieser Konstruktion Khashoggis durch die Washington Post freimachen. Khashoggi war ein Mann des Palastes. Er hat eng mit dem saudischen Geheimdienst zusammengearbeitet, vor allem mit dem ehemaligen Direktor des Geheimdienstes, Prinz Turki al-Faisal. Khashoggi muss genug Informationen gehabt haben, um Saudi-Arabien möglicherweise in ernsthafte Schwierigkeiten zu bringen. Sie haben ihn eliminiert, weil er sich vom Regime losgesagt hatte. Er war in die USA gegangen und hätte Informationen über Saudi-Arabien, über den inneren Kreis, herausgeben können. Er war nicht einfach jemand, der Demokratie wollte. In Wahrheit hatte Khashoggi gar nicht Demokratie in Saudi-Arabien gefordert. Es ist nicht so, dass er der größte Demokrat war.
Kannten Sie ihn persönlich?
Al-Rasheed: Ich habe ihn in London getroffen, als er Sprecher von Turki al-Faisal war zu dessen Zeit als Botschafter in London.
Sie scheinen Khashoggi gegenüber kritisch zu sein.
Al-Rasheed: Ich sage nur, wie es war. Ich habe mich mit seinen Büchern und Artikeln beschäftigt. Khashoggi hat zwar Demokratie in der arabischen Welt gefordert, aber er schrieb auch: Ich fordere keine Demokratie in Saudi-Arabien, denn die Saud-Herrschaft ist gut. Man bräuchte nur öffentliche Parks, Beschäftigung für die Jugend und Meinungsfreiheit, argumentierte er. Das war absolut verrückt, was aber natürlich nicht seine Ermordung rechtfertigt. Das war ein schreckliches Verbrechen, absolut unfassbar. Aber das passiert, wenn man sich von einem totalitären System lossagt.
Sie sind weltweit betrachtet die wahrscheinlich bekannteste Saudi-Arabien-Expertin. Gleichzeitig sind Sie eine lautstarke Kritikerin des saudischen Regimes. Hatten Sie Angst nach der Ermordung Khashoggis?
Al-Rasheed: Wir alle hatten große Angst. Uns ist bewusst, dass er seine Todesschwadronen schicken kann.
Ist es das erste Mal, dass Sie sich bedroht fühlen?
Al-Rasheed: Ich wurde bereits 1991 bedroht, nachdem ich in Großbritannien promoviert hatte und mein erstes Buch schrieb. König Salman, der damals Gouverneur von Riad war, schickte mir eine Warnung über den saudischen Botschafter in Paris, wo mein Vater damals lebte. Der Botschafter rief meinen Vater an, entschuldigte sich und sagte: Ich muss Ihnen eine Nachricht vom Königlichen Hof überbringen. Die Nachricht lautete: Wenn Ihre Tochter ihr Buch veröffentlicht, werden wir 'disziplinarische Maßnahmen' ergreifen. So haben sie es ausgedrückt.
Haben Sie das Buch veröffentlicht?
Al-Rasheed: Natürlich. Wer in Angst lebt, könnte genauso gut nach Saudi-Arabien zurückkehren und schweigen. Aber damals wurde mir erstmals bewusst, dass mein Leben in Gefahr ist, wenn ich weiterhin schreibe. Dabei war es nur ein Geschichtsbuch, in dem ich über das Emirat der Raschiden in Nordarabien schrieb.
Es waren Ihre Vorfahren, die dieses Emirat einst regierten. In den 1920er Jahren, bevor das saudische Königreich gegründet wurde, führten die Raschiden einen Krieg gegen die Saudis. Hat Ihr familiärer Hintergrund Einfluss auf Ihre Arbeit?
Al-Rasheed: Die Saudis werfen mir immer vor, ich wolle zu den glorreichen Tage meiner Familie zurückkehren. Aber in meiner Arbeit geht es nicht darum, zu irgendeiner Art von Emirat oder Dynastie zurückzukehren. Davon hatten wir genug. Die Partei, die wir gegründet haben, ist eine Initiative, mit der wir hoffen, die tribalen oder konfessionellen Trennlinien zu überwinden, denen die Saudis so lange ausgesetzt gewesen sind.
Das Interview führte Jannis Hagmann.
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Madawi al-Rasheed, 57, ist Sozialanthropologin, Autorin zahlreicher Bücher über Saudi-Arabien und politische Kommentatorin. Sie ist Fellow der British Academy und lehrt als Gastprofessorin an der London School of Economics and Political Science. Im Dezember erscheint ihr Buch "The Son King", in dem sie sich mit Saudi-Arabien unter Mohammed bin Salman auseinandersetzt.