Zwischen Religion, Rohstoffabhängigkeit und Reformen
Noch ist keineswegs sicher, ob der Arbeitstitel am Ende auch der Titel ist, unter dem das neue Buch von Guido Steinberg im nächsten Jahr erscheinen wird: "Kalter Krieg am Golf" soll es heißen. Doch während Saudi-Arabien und seine engen Verbündeten USA noch nach einer passenden Antwort auf die Drohnenangriffe auf saudische Ölanlagen suchen, könnte sich der Kalte Krieg schnell in einen heißen verwandeln.
Umso wichtiger ist es aktuell zu verstehen, was in Saudi-Arabien vor sich geht. Das ist angesichts der Undurchdringlichkeit der Herrschaftsstrukturen keine leichte Aufgabe. Steinberg, Nahost- und Terrorexperte der politikberatenden Stiftung Wissenschaft und Politik, studiert das Land seit Jahrzehnten. Um zu begreifen, was die saudische Politik heute prägt, blickt er auf die 250-jährige Geschichte des Landes und analysiert drei bestimmende Faktoren: die Religionsgelehrten, das Öl und die Herrscherfamilie.
Die Religionsgelehrten - nicht mehr dominant
Kaum ein Staat ist so stark von Religionsgelehrten geprägt wie Saudi-Arabien - mit vielleicht der Ausnahme Iran. Doch die wahhabitischen Religionsgelehrten befanden sich nicht immer in Übereinstimmung mit dem Herrscherhaus. Ganz radikale Wahhabiten folgen bis heute einer extrem puristischen Ideologie, die zum Beispiel verlangt, dass alle Grabmoscheen zerstört werden - man denke beispielsweise nur an Mekka, die Grabstätte Mohammeds in Medina oder an das Taj Mahal in Indien. Die große Zeit der Gelehrten endete 1930. Gegenwärtig drängen die saudischen Herrscher ihren Einfluss zurück. Wenn es um Entscheidungen ginge, seien sie Juniorpartner, meint Steinberg.
Zunehmend sei dagegen der Einfluss des saudischen Wahhabismus auf den Islam insgesamt. Saudi-Arabien fördert den Bau von Moscheen, lässt viele Religionsgelehrte aus aller Welt im eigenen Land ausbilden, schickt eigene in die Welt und holt sie wieder zurück. Gastarbeiter aus der arabischen Welt werden in Saudi-Arabien vom Wahhabismus geprägt und tragen ihn in ihre Länder zurück. Als Förderer des Islam sind saudische Gelehrte auch im Westen aktiv, legal - und möglicherweise auch nicht.
Salafistische Missionierung
Auch der sogenannte "Islamische Staat" (IS) habe in der Praxis ganz viel von der radikalen wahhabitischen Lehre übernommen: zum Beispiel die Gräberzerstörung und den enormen Schiitenhass. "Viele IS-Führer und viele der Prediger, die in Europa für den IS Werbung machten, haben an der islamischen Universität von Medina studiert, dem Missionszentrum der Wahhabiten."
Das größte Problem sieht Steinberg darin, dass es aufgrund dieser Propagandatätigkeit unter Muslimen weltweit einen Trend gebe, das wahhabistisch-salafistische Gedankengut für den wahren Islam zu halten. "Heute glauben auch viele türkischstämmige Muslime in Deutschland, der Islam sei, fünfmal am Tag in die Moschee zu gehen. Viele Teile der Lehre, die aus Saudi-Arabien stammt, werden plötzlich als Bestandteil eines Mainstreams angesehen."
Ein solcher Islam sei sehr schwer kompatibel mit Minderheiten, oder mit einer ganz anders orientierten Mehrheitsgesellschaft.
Saudi-Arabien begann 1938 mit der Ölförderung. Heute ist es der größte Erdölexporteur der Welt mit bestimmender Marktmacht. Der große Modernisierungsschub setzte 1973 ein, als der Ölpreis stark anstieg. Es war eine schnelle, oberflächliche Modernisierung, die nicht ohne Probleme blieb: 1979 rebellierten radikale Wahhabiten und forderten die Rückkehr zur alten Gesellschaft - Lehmhütten statt Hochhäuser. Der Ölboom verschob die Koordinaten der Macht in der arabischen Region, berichtet der Wissenschaftler: "Der geopolitische Schwerpunkt wanderte nach 1973 von Kairo nach Dubai, Riad und Abu Dhabi."
Das Öl - immer noch alles entscheidend
Unter dem niedrigen Ölpreis in den Neunzigern brach Saudi-Arabien fast zusammen. Es sei kaum zu überschätzen, so Steinberg, welche Bedeutung der Ölhandel in seinen politischen Auswirkungen habe. Dass die Saudis ihren Haushalt nicht mehr finanzieren konnten und ihre Wohltaten einstellen mussten, sei einer der Gründe für das Entstehen von Al-Qaida.
Die Abhängigkeit vom Rohstoff Öl ist bis heute ungebrochen. Neunzig Prozent seines Einkommens bezieht der saudische Staat durch Saudi-Aramco, den weltgrößten erdölfördernden Konzern. Reformen sind langfristig notwendig, das hat Saudi-Arabiens neuer starker Mann, Kronprinz Mohammed bin Salman, erkannt.
Saudischer Autoritarismus im Wandel
Zentral bleibt die Frage, wie stark die Machtposition des vergleichsweise jungen Kronprinzen Mohammed bin Salman tatsächlich ist. "Der Charakter des saudi-arabischen Autoritarismus hat sich verändert", analysiert der Nahostexperte. "Zwischen den 1970er Jahren und 2015 beherrschte eine Oligarchie das Land. Heute müssen Sie nur noch zwei Personen kennen, die Entscheidungen treffen können." Das seien König Salman (Salman ibn Abd al-Aziz Al Saud), dem es gesundheitlich nicht besonders gut gehe, Jahrgang 1936. Und Kronprinz Mohammed bin Salman. "Nach dem Khashoggi-Mord gab es kurz die Hoffnung, dass er geschwächt wäre, aber das scheint nicht der Fall zu sein."
Reformen und Autoritarismus seien nach Ansicht Steinbergs für bin Salman kein Widerspruch. "Es war in Saudi-Arabien vor ein paar Jahren ohne weiteres möglich, Regierungspolitik zu kritisieren. Es gab zwei Tabus: Religion und die Herrscher. Faktische Politik konnte man immer wunderbar diskutieren. Heute müssen Sie damit rechnen, dass Sie selbst für ganz, ganz schwache Kritik im Gefängnis landen."
Wie stark bin Salmans Akzeptanz und Rückhalt bei der jüngeren saudischen Generation auch nach dem vermutlich von ihm veranlassten Khashoggi-Mord noch ist, lässt sich nur empirisch beantworten.
Trotz Khashoggi habe er oft eher Positives gehört, erzählt Guido Steinberg. "Dass da jemand antritt, der sagt, wir wollen alte Zöpfe abschneiden, wir lassen Frauen Auto fahren, und wir fahren die Einschränkungen zurück, denen Frauen rechtlich unterliegen, sichert ihm Unterstützung."
Tatsächlich habe bin Salman ein verknöchertes System aufgebrochen. "Ich glaube, dass er wirklich die Chance hat, ein großer Reformer zu werden - wenn er wirtschaftlich erfolgreich ist."
Und der Iran?
Zur Frage, wer die saudischen Ölanlagen zerstört hat, äußert sich Steinberg nicht. Lieber erzählt er, wie sich aus Sicht vieler weltoffener Saudis die Lage darstellt. Sie beschwerten sich darüber, dass die Iraner mittlerweile vier Hauptstädte beherrschten: Bagdad, wo der iranische Einfluss sehr stark sei, Syriens Damaskus - ohne die iranischen Milizen würde sich Assad wahrscheinlich nicht halten, Beirut, das mit von der Hisbollah kontrolliert wird, und Saana im Jemen.
Paradoxerweise habe der iranische Einfluss vor allem durch die amerikanischen Eingriffe im Irak, die Beseitigung Saddam Husseins und die Destabilisierung der gesamten Region sehr stark zugenommen. "Andererseits sehen wir neue Allianzen, die wir nicht für möglich gehalten hätten: Saudi-Arabien und Israel haben eine nahezu identische Iranpolitik."
Sabine Peschel
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Guido Steinberg ist Mitglied der Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten und Afrika der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Von 2001 bis 2005 war er als Experte für Internationalen Terrorismus im Bundeskanzleramt tätig. Über Saudi-Arabien sprach er aktuell im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals Berlin.