In den Gärten des Dialogs
Wie entstand die Idee zu Ihrem neuen Film "What's going on?"
Jocelyne Saab: Das ist eine lange Geschichte: Beirut wurde im Jahr 2009 von der UNESCO zur World Book Capital ausgewählt und es gab Leute, die meinten, ich solle doch einen Film darüber machen. Irgendwie verärgerte mich das ein wenig. Sicher, wir waren World Book Capital, aber immerhin gibt es bei uns Zensur und die künstlerischen Freiheiten sind begrenzt, von ausreichend Geld für die Künste ganz zu schweigen. Deshalb fand ich die Idee vollkommen abwegig. Ich sagte also: "Okay, dann lass uns doch mal etwas über einen Autoren und dessen Fantasien machen!" Und so entstand diese Idee eines gewaltigen Buches auf einer Terrasse über den Dächern der Stadt.
Ich erzähle in meinem Film eine Liebesgeschichte und gleichzeitig etwas über die Stadt Beirut. Darin verliebt sich ein Mann in eine Frau (Lilith), die die Stadt verkörpert. Natürlich hat das alles etwas Symbolisches. Es sind letztlich drei Geschichten entstanden: die Stadt, die Liebesgeschichte und die Geschichte eines Mannes, der nicht weiß, wie er diese Frau lieben und verstehen soll. Das gelingt ihm erst dadurch, dass er viel liest.
Am Anfang hört man nur Liliths Stimme, wie die eines Muezzins. Doch hier geht es um Poesie, die von oben kommt und die sagt "Ich bin Lilith, eine Frau, die den Männern ebenbürtig ist. Ich bin nicht der Teufel, ich bin gleich wie ihr". Und ihre Stimme erfüllt die ganze Stadt, führt den Mann zu vielen Frauen, zu einem Garten und auch zu dem unglaublichen Gebäude, das Beirut in zwei Häften teilt (das Burj-al Murr-Gebäude). Dieses ist ein Ort des Lesens geworden, eine Bibliothek mit Poesie darin.
Schließlich landet er in den Bergen, wo er seinem Tode begegnet. Danach kehrt er zu der Bibliothek zurück, wo er alle Bücher liest und darauf kommt, dass das einzig wirklich Wichtige ist, seine Erinnerungen zu behalten. Auf diese Weise habe ich also den Film aufgebaut, ohne wirkliche Dramaturgie. Man geht einfach hindurch, als wäre man in einem Traum oder in der eigenen Vorstellung.
Es geht Ihnen in "What's going on?" nicht so sehr darum, dass der Zuschauer alles versteht von dem, was er sieht. Er soll einfach für eine Weile in eine Traumwelt entführt werden. Kann Ihr Film deshalb als Rückzug aus der Realität verstanden werden?
Saab: Ja, aber nicht in negativer Weise. Ich sage nicht: "Diese Realität mag ich nicht, deshalb baue ich dir eine andere". Die Wirklichkeit, in der wir leben, hat nicht genügend Tiefe, sie ist zu oberflächlich. Es geht mir um etwas, das mit unseren Traditionen und unserer Kultur zu tun hat. Danach suche ich immer.
Natürlich lehne ich die Realität des Krieges und des Geldes ab. Ich versuche, das Leben zu rekonstruieren, so wie ich es kannte, als ich noch sehr jung war. Früher war mein Land ein wunderschöner Garten – Gärten gibt es hier heute keine mehr. Ich habe versucht, die Kultur, die wir früher hatten, wiederzubeleben. Darin besteht meine Ablehnung der Realität. Und aus diesem Grund fordere ich die Menschen auf, zu träumen.
Sie erwähnen den Garten als zentrales Motiv Ihres Films. Der Garten als Kunstform ist tief verwurzelt in der Kultur des Nahen Ostens, aber was bedeutet er für Sie persönlich?
Saab: Jemand, der sich mit meinem Werk beschäft hat, hat einmal gesagt, dass ich immer nach dem Garten meiner Jugend suche, und das halte ich absolut für möglich. Dieser Garten ist wie meine Kindheit, die durch den Krieg gestohlen wurde und nach der ich niemals aufgehört habe zu suchen.
Der Garten ist der Ort, an dem gegensätzliche Dinge miteinander in den Dialog treten können. Es gibt wilde Pflanzen und solche, die man ausgesät hat und die man pflegt. Es gibt unterschiedliche Bäume, aber alles hängt miteinander zusammen und befindet sich in einem Dialog. Im Krieg dagegen redet niemand mit dem anderen. Alle hassen sich gegenseitig. Aus diesem Grund laufe ich in den Garten, wo alles miteinander spricht. Unser Land sollte der Garten Gottes sein. Heute weiß ich aber nicht, wo dieser Garten sein soll und auch nicht, wo Gott ist.
Sie kommen eigentlich aus dem Journalismus und haben schon einige Dokumentarfilme gedreht. Erst in den 1980er Jahren haben Sie begonnen, auch Spielfilme zu machen, also mitten im Bürgerkrieg. War es Zufall, dass Sie von Dokumentarfilmen zu fiktionalen Geschichten wechselten?
Saab: Ich habe mein Wirtschaftsstudium in den 1970er Jahren beendet und fing an, fürs Fernsehen zu arbeiten. Ich war Kriegskorrespondentin in Ägypten und dem Süd-Libanon, ging 1971 nach Libyen, berichtete über den Oktober-Krieg 1973. 1975 arbeitete ich auch für das französische Fernsehen. Ich war eine Kriegsreporterin.
Den Entschluss zu meinem ersten Film über das Land fasste ich, nachdem im Jahr 1975 ein Bus mit Palästinensern, der von einem Fest kam, gekidnapped worden war, alle Insassen wurden erschossen. Der Film hieß "Libanon in Aufruhr". Seitdem habe ich mit dem Filmemachen nicht mehr aufgehört. Meine Dokumentarfilme wurden aber nach zwei Jahren immer persönlicher, es waren keine Dokumentarfilme im klassischen Sinne mehr, bis ich dann eben irgendwann zu fiktionalen Arbeiten überging.
Es war damals sehr schwer, inmitten des Bürgerkrieges zu leben. Aber genau dort lebte ich und berichtete von der Front, was mich dazu veranlasste, von dort quasi an einen anderen Ort zu träumen. Ich erinnere mich daran, was ich zu dieser Zeit häufig sagte: "Ich muss erzählen, was die Menschen im Herzen bewegt. Ich will nicht nur zeigen, was um sie herum geschieht." Mir war nicht danach, Dokumentationen zu machen, in denen ich die Menschen bat, mir ihre Geschichten zu erzählen. Das war Sache der Presse, meine nicht mehr.
Ich habe sehr viele Dokumentarfilme gemacht, in manchen Jahren sicher zehn oder zwölf. Dann merkte ich irgendwann, dass ich eine Geschichte erzählen muss, in der es darum geht, was nicht zu sehen ist.
Wie beeinflusst die politische Situation in Syrien den Libanon?
Saab: Ohne hier ein größeres politisches Statement abgeben zu wollen, denke ich, dass unsere Länder schon sehr eng miteinander verbunden sind. Wir sehen deshalb, wie sehr die Menschen dort leiden. Viele Flüchtlinge kommen zu uns, und was in Syrien geschieht, erinnert uns an das, was zu Beginn des Bürgerkriegs in unserem Land geschah.
Natürlich ist die Situation unterschiedlich, aber das Leid ist dasselbe, die Gewalt ist dieselbe. Ich bin gegen den Krieg und ich glaube nicht, dass der Krieg irgendetwas zum Guten verändert. Wir sind insofern auch davon betroffen, weil auch wir die Spannungen spüren. Wir leben mit Israel auf der einen Seite und Syrien auf der anderen und sind durch Gemeinden miteinander verbunden, durch die regionale Politik und durch vieles andere.
Die Menschen im Libanon sind sich all dessen bewusst, sie stehen dem Krieg aber recht gleichgültig gegenüber. Wir kennen all die Manipulationen, die vor sich gehen, den Machtkampf zwischen Ost und West und wir wissen, dass es auch um den Iran geht. Wir sind deshalb vielleicht etwas abgestumpft. Das Einzige, dem wir aber nicht gleichgültig gegenüberstehen, ist das schreckliche Leid.
Der Libanon hat seine eigene Geschichte des Leidens, den Bürgerkrieg. Wohin wird sich das Land künftig entwickeln?
Saab: Wir wissen nicht, wie es mit unserem Land weitergeht, weshalb die Lage sehr angespannt ist. Wir leben eben einfach und das sehr intensiv. Wir leiden auch, wie man es in "What's going on?" sehen kann. Schließlich geht es auch dort um zwei große Themen: das Leiden – das Mädchen mit dem kranken Herzen –, aber andererseits gibt es eben auch sehr viel Zuneigung, Zärtlichkeit und Liebe, verkörpert durch diesen Jungen, der bemüht ist, sich all dem zu nähern und es zu verstehen.
Interview: Élena Eilmes
"What's Going On?" (Libanon/Frankreich), 2010, Länge: 78 Minuten, mit Ishtar Yasin Gutierrez, Joumana Haddad und Raia Haidar, Regie: Jocelyne Saab
Aus dem Englischen von Daniel Kiecol
© Qantara.de 2012
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de