Das Auge der Sonne
Häufig fällt das Wort "Schönheit", wenn sie voller Stolz über den Umsturz sprechen und darüber, wie unabhängig von einer Führerfigur er erfolgte, selbst organisiert. Um die 1.500 ägyptische Filmschaffende, Produzenten, Kameraleute, Techniker fanden sich in jenen Tagen zu einem Netzwerk zusammen, das alle über die Ereignisse informierte.
Einige hatten von Anfang an ihr Lager am Tahrirplatz aufgeschlagen, andere gesellten sich als sympathisierende Zaungäste hinzu, manche hatten ihre Produktionsbüros direkt um die Ecke, wieder andere kamen von weit her, mehrere waren zwischenzeitlich verschollen, einige wurden verletzt.
Fakt ist: Ägyptens Filmszene war in vorderster Front an den Protesten beteiligt – und wer nur konnte, hatte seine Digitalkamera dabei, und werkelt jetzt an einem Beitrag mit seiner Sicht der Ereignisse.
Eben diese flexible, billige Digitaltechnik hatte dem ägyptischen Kino, diesem komatösen Relikt verblasster besserer Zeiten, in den letzten Jahren einen Innovationsschub verpasst, sodass schon die Rede von einer ägyptischen Nouvelle Vague umher ging.
Profiteur oder Opfer des Regimes
Jüngstes Beispiel etwa ist der Film "Hawi" – ein labyrinthisches, episodisches, mit trockenem Humor erzähltes Nachtstück, in dem noch jeder der Beteiligten Profiteur oder Opfer des Regimes ist. Sein Autor, Ibrahim Batout, hatte als Reporter in Krisengebieten von Bosnien bis zum Irak, wie er selbst sagt, sein soziales und politisches Gewissen geschult, er gilt seit 2008 als Mitbegründer eines neuen Independentkinos:
"Ein Shams/The Eye of the Sun" war ein Porträt sozialer Entwurzelung in den Vorstädten, aus der Sicht eines krebskranken Mädchens, das davon träumt, Ein Shams, diesen heruntergekommenen vormaligen Pharaonensitz, für einen Tag zu verlassen. Eine Szene exzessiver Polizeigewalt wurde 1988 bei einer Demonstration gefilmt, der Regisseur wurde dabei angeschossen.
Batouts Drehbuchautor ist Tamer el Sayid, der Anfang 2011 "In the Last Days of the City" drehte – ein Werk mit geradezu prophetischem Titel. Batouts Cutter wiederum hat mit seinem letzten Spielfilm Ende 2010 fast alle wichtigen arabischen Festivalpreise abgeräumt: Ahmad Abdallahs "Microphone" gilt als der "Film zur Revolution", von der man da noch nichts ahnte; ein anstößiges Grafitto darin, "The Revolution starts here", ließ ihm der Zensor als realitätsferne Phantasterei durchgehen.
Der Held Khaled ist ein desillusionierter Heimkehrer, durchstreift die Undergroundszene der Rapper, Skater, Sprayer und Off-Künstler. "Microphone" zeigt eine Welt unterschlagener Förderungen und verweigerter Auftrittsgenehmigungen, offenbart aber in den Hinterhöfen auch eine enorme kreative Energie.
Batout, el-Sayid, Abdallah, Ahmad Rashwan und andere pflegen einen frischen und direkten Guerilla-Style: Mit Laiendarstellern auf der Straße mit improvisierten Dialogen gedreht, zeigen ihre Filme den im Studiobetrieb der letzten Jahrzehnte vernachlässigten ägyptischen Alltag, spiegeln die allgemeine Stagnation, die wirtschaftliche Misere und den sozialen Druck.
Langwieriger Reifeprozess
Abdallah, der die machetenschwingenden Kamelreiter am Tahrirplatz miterlebte, gehört nun zu einem Gremium, das das Filmsyndikat und das Zensursystem umkrempeln soll. Fast wichtiger ist die künstlerische Herausforderung: Lange Zeit beschränkte sich Kritik im ägyptischen Kino auf symbolische, indirekte Andeutung.
"Aber nachdem wir Parolen auf der Straße gerufen und alle Grenzen überschritten haben, können wir nicht mehr zurück. Jetzt müssen wir beginnen, die Sprache des Kinos zu ändern." Die Umstrukturierung des Kulturbetriebs braucht indes Zeit.
Zwar entstehen überall Digital-Dokus und Kurzfilme, doch wird es noch dauern bis zum ersten substantiellen Spielfilm. "Wir müssen die Ereignisse erst einmal verdauen", meint Khaled Abol Naga, Hauptdarsteller und Ko-Produzent von "Microphone", ein Star des ägyptischen Kinos, außerdem Unicef-Botschafter und Menschenrechtsaktivist.
"Es ist eine harte Zeit für Künstler; sie müssen ihre Sprache ändern und lernen, offener zu denken und zu schreiben – aber es muss geschehen. Es wird drei, vier Jahre brauchen, bis Werke entstehen, die angemessen diesen historischen Umbruch reflektieren."
Stunde Null des ägyptischen Kinos
Erst einmal muss die Infrastruktur wieder funktionieren: Die Kinos waren längere Zeit geschlossen, jetzt kommen die Zuschauer nur zögerlich, Produzent Mohamed El Hefzy rechnet mit Umsatzeinbußen von 60 bis 80 Prozent. Ägyptens Produzenten, die häufig für die solventen, aber konservativen Golfstaaten arbeiten – und daher inhaltliche Konzessionen machen –, wickeln angefangene Projekte ab, warten aber lieber den Ausgang der Wahlen ab, bevor sie neue Stoffe umsetzen.
Einen Richtwert liefert aber das ägyptische Fernsehen: Üblicherweise werden etwa 25 Ramadan-Soaps produziert, aktuell sind es nur acht.
Wegen dieser Einbrüche erwägt der neue Kulturminister, Emad Abu Ghazi, dieses Jahr einige etablierte Festivals auszusetzen, die auch prestigeträchtige Aushängeschilder der Mubarak-Entourage waren: das ehemals prachtvolle, inzwischen arg ramponierte Cairo Film Festival, das Festival von Alexandria und das angesehene Dokumentarfilmfestival von Ismailiya am Suezkanal.
Khaled el-Haggar der einige der kommerziell erfolgreichsten sozialkritischen Filme der letzten Jahre gedreht hat, hält das für das falsche Signal: "Das steht für Zerstörung, nicht für Neuanfang." Eine kleine, abgespeckte Version wäre ehrlicher, und dem Status quo nur angemessen.
El-Haggar ist verhalten optimistisch: Generell ist viel mehr möglich – sein lange zensierter Film "Little Dreams" etwa, der vor dem Hintergrund des Sechstagekriegs spielt, lief inzwischen mehrmals im Fernsehen. Für die nächsten Jahre erwartet er einen Schub unabhängiger Filme mit sozial interessanten Themen: "Danach gibt es wieder Blockbuster-Komödien."
Anfang Mai gab es erst einmal Tumult: Sami al-Sharif, Vorsitzender der Fernseh- und Radio-Vereinigung, hieß es, habe ein generelles Verbot für Filmküsse und -umarmungen erlassen, das rückwirkend für die Goldenen Klassiker auch gelte. Al-Sharif, der kurz vorher noch die Zensur für abgeschafft erklärt hatte, dementierte umgehend; dennoch rührte die Meldung an die größte Angst ägyptischer Kreativer: die vor iranischen Zuständen.
In der Kritik: Episodenfilm "18 Days"
Wie schwierig die Situation gerade zu erfassen ist, zeigte sich eben beim Festival von Cannes, das das ägyptische Kino zum Ehrengast ausgerufen hatte. Ausgerechnet der Episodenfilm "18 Days" führte zu einem Boykottaufruf. O-Ton der Protestler: Starregisseur Yousry Nasrallah sei eingeladen worden, zehn Kurzfilme zum Umsturz zusammenzustellen, und habe nur seine Kumpane angefragt.
Schlimmer noch: Zwei der beteiligten Regisseure – Sherif Arafa und Marwan Hamed – hatten 2005 Wahlwerbespots für Mubarak gedreht. Der Protest richte sich nicht gegen die Kollaborateure, sagt El-Haggar:
"Aber um wirklich ein Zeichen gegen die bisherige Vetternwirtschaft und Korruption zu setzen, hätte ein öffentlicher Aufruf per Facebook gereicht. So aber fehlen die seit den Achtzigern aktiven kritischen Regisseure, und all die jungen Talente, die bislang kein Gehör und keine Förderung fanden."
Andererseits hatte Yousry Nasrallah während der früheren "Kifaya"-Proteste an vorderster Front gestanden und sich in seinen Filmen, zuletzt etwa "Aquarium", immer wieder systemkritisch positioniert; Marwan Hameds viel beachtete Romanverfilmung "The Yacoubian Building" zeichnete ein Mietshaus samt Einwohnerschaft als Metapher eines maroden Systems.
Bereits 1993 entstand der wohl treffendste Film über Nepotismus, Vetternwirtschaft, Kleptokratie des Systems Mubarak – in der visionären Satire von Sherif Arafa nimmt ein Aufstand seinen Ausgang am Tahrirplatz. Der Titel der bizarren Komödie: "Terror und Kebab".
Amin Farzanefar
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de