"Die Türkei wird zum Produzenten von Flüchtlingen"
Die AKP-Regierung beendete die Verhandlungen mit der PKK, die zwei Jahre andauerten, mit der Begründung, sie bekämpfe den Terrorismus. Viele sagen, dass es sich bei diesem Konflikt eigentlich um einen Kampf gegen die kurdische Bevölkerung handelt. Welche Position vertreten Sie?
Bilgin Ayata: Ich denke, dass dieser Krieg gegen die kurdische Bevölkerung in der Region geführt wird. Amnesty International und türkische Menschenrechtsorganisationen haben darauf hingewiesen, dass in mehreren Provinzen seit über sechzig Tagen rund um die Uhr Ausgangssperre herrscht. NGOs haben dargelegt, dass über 1,3 Millionen kurdische Zivilisten von diesen Ausgangssperren und Militäroperationen betroffen und mindestens 160 Zivilisten gestorben sind. Familien werden daran gehindert, den Verwundeten zu helfen und ihre Toten zu begraben, da die Leichen von den Sicherheitskräften einbehalten werden. 80.000 Kinder können seit zwei Monaten nicht zur Schule gehen. Der Bildungsminister schrieb per SMS an die Lehrer, sie sollten die Region verlassen, bevor die Militäroperationen beginnen. Über 200.000 Menschen wurden aus ihren Häusern vertrieben. Das zeigt das Ausmaß der militärischen Belagerung in den kurdischen Provinzen. In einem jüngsten Bericht erklärte Amnesty International, dass der Staat mit seinen Maßnahmen die kurdische Bevölkerung kollektiv bestraft. Dem schließe ich mich an.
Viele sagen, dass der Kampf der Türkei gegen den IS ein Scheinkrieg ist. Schließen Sie sich dieser Position an?
Ayata: Absolut. Genau genommen schützt die Türkei durch ihren Kampf gegen die Kurden den IS vor seinem wichtigsten Herausforderer in der Region. Jeder weiß mittlerweile, dass die Kurden unter dem Vorwand, den IS und die PKK zu bekämpfen, unverhältnismäßig häufig zur Zielscheibe werden – nicht nur die PKK, sondern auch die HDP. Die HDP ist die legale politische Partei, die aus der kurdischen Bewegung hervorging. Sie erreichte einen sehr bedeutenden und wichtigen Sieg bei den Wahlen im Juni 2015, trotz vieler Angriffe auf ihre Büros und Wahlveranstaltungen. Dennoch ordnete die Regierung neue Wahlen an, nur um das Wahlergebnis vom Juni abzuändern. Zeitgleich zu der Verkündung der Neuwahlen (welche im November 2015 stattfanden), fanden Bombenattentate auf HDP-Hochburgen sowie Militäroperationen statt, die das Ende des Friedensprozesses einläuteten. Nach den Wahlen verstärkte sich der Krieg gegen die Kurden, nachdem der HDP abermals der Einzug ins Parlament gelungen war. Doch schnell merkten die Parlamentarier, dass sich die Macht vom Parlament zum Präsidenten verschoben hatte.
Erdoğan sieht die HDP als den politischen Arm der PKK. Abgesehen vom Verlust der absoluten Mehrheit der AKP bei den Wahlen im Juni 2015 – wie haben die Entwicklungen in Syrien mit seiner wachsenden kurdischen Autonomie und im Irak, das seit 2003 eine autonome kurdische Region hat, die Motivation und die Taktik der Regierung beeinflusst?
Ayata: Die Außenpolitik der Türkei durchläuft ein inkonsequentes Muster. Die AKP wollte zunächst die Beziehungen zur EU stärken. Dann konzentrierte sie sich auf den Mittleren Osten unter dem Motto "Keine Probleme mit der Nachbarschaft". Nur ein paar Jahre später befand sie sich 2012 am Rande des Krieges mit Syrien. Heute hat sie ein sehr schlechtes Verhältnis zu all ihren Nachbarn: Kürzlich griff sie verbal Russland an, ein wichtiger Handelspartner, und befindet sich zudem im politischen Konflikt mit Syrien, Ägypten, dem Irak, Iran und Israel. Die Türkei hat sich von einer stabilen regionalen Führungsmacht in einen unverlässlichen und unbeständigen Akteur gewandelt.
Um die Rolle der Kurden hierbei zu verstehen, müssen wir uns die arabischen Aufstände vor Augen führen. 2011 gab es den Spruch: "Arabischer Frühling und türkische Ernte". Die Türkei schien von den Regimeveränderungen zu profitieren und gewann zusehends an Einfluss in der Region. Aber die Kurden waren ebenfalls die Gewinner der arabischen Aufstände. Auch wenn das erst mit einiger Verspätung sichtbar wurde. Sie erlebten einen Machtzuwachs in Syrien (zusätzlich zum Irak und Iran), der nicht direkt von den Protesten betroffen war. Heute gibt es einen kurdischen Gürtel um die Türkei, der – neben dem Machtgewinn der Kurden im Land –die Regierung seither zunehmend beunruhigt. Diesen Machtgewinn zu verhindern und zu verringern, ist erneut das außenpolitische Ziel der türkischen Regierung.
Seit seinem Beginn sehe ich den Friedensprozess als einen Versuch, die kurdische Bewegung in den Grenzen der Türkei zu halten, indem man vage Aussichten für eine Lösung des Konflikts schaffte und einige Rechte versprach, die die Kurden stärker an die Türkei binden und sie davon abhalten sollten, sich einer kurdischen Autonomie wie in Rojava anzuschließen. Aber der Prozess war mehr rhetorisch und taktisch als substanziell. Die Tatsache, dass von einem Tag auf den nächsten vom Friedensprozess auf Krieg geschaltet wurde, zeigt, dass es nie ein nachhaltiges Engagement von Seiten der Regierung gegeben hat, die Kurden wirklich in den politischen Prozess einzubeziehen. Vielmehr war es ein Versuch, die Kurden davon abzuhalten, stärker und einflussreicher in der Region zu werden.
Welche Rolle spielt die PKK in diesem Szenario?
Ayata: Natürlich ist sich die PKK der Veränderungen in der Region bewusst und betreibt ebenfalls Machtpolitik, wie alle, die vom regionalen Konflikt betroffen sind. 2014 gewann die PKK international an Renommee als sie Jesiden vor dem Genozid im Sindschar-Gebirge rettete und Kobanê davor bewahrte, vom IS eingenommen zu werden. Internationale Beobachter erkannten die Bedeutung der PKK im Kampf gegen den IS an, und die PKK wurde in den westlichen Medien teils recht positiv dargestellt. Es wurde geradezu ein Kult der kurdischen Kämpferin in Frauenmagazinen zelebriert und die Medien stellten die PYD und die PKK als Antidoten der Politik der IS dar. Im Moment liegt das Interesse der Linken der ganzen Welt auf Kobanê als ein radikales demokratisches Experiment inmitten des Krieges, inspiriert durch PKK-Führer Öcalan und seine Schriften. Alle diese Entwicklungen stärkten die PKK, welche nicht nur ernst genommen werden, sondern auch die Veränderungen in der Region gestalten will.
Weder die EU noch die NATO haben die Türkei bislang für ihre militärischen Aktivitäten kritisiert. Stattdessen stärken sie ihr den Rücken aufgrund der anhaltenden Flüchtlingskrise und da sie die Türkei als Verbündete den IS sehen. Wie sollten sie sich stattdessen verhalten?
Ayata: Die derzeitige politische Situation sowohl im Nahen Osten als auch in Europa ermöglicht es der türkischen Regierung, freie Hand zu haben, ohne sich an die Einhaltung der Menschenrechte oder demokratische Standards halten zu müssen. Alleine die Tatsache, dass die Türkei die höchste Zahl von Flüchtlingen beherbergt, nutzt Erdoğan als ein sehr mächtiges Instrument aus.
Die EU ist einen politischen Deal mit der Türkei eingegangen – mit dem einzigen Ziel, die Flüchtlinge davon abzuhalten, in die EU zu kommen, ähnlich wie dies Jahre zuvor schon mit dem libyschen Diktator Gaddafi erfolgte. Obwohl Brüssel und Berlin über die rapide Verschlechterung jeglicher konventioneller Menschenrechtsstandards in der Türkei Bescheid wissen, behandeln sie Davutoğlu und Erdoğan geradezu fürstlich. Zu denken, dass man Asylsuchende schlicht "outsourcen" könnte, während über eine Million Menschen unter der militärischen Belagerung leiden, ist schlichtweg gefährlich und inakzeptabel. Die Türkei hat den syrischen Flüchtlingen bis heute keinen legalen Status eingeräumt und behandelt sie als vorläufige Gäste. Deshalb verlassen auch viele Syrer die Türkei, denn es gibt keine realistischen Perspektiven für sie. Die Türkei hat schon vorher Flüchtlinge produziert, über eine Million Kurden in der Türkei erhalten keine adäquate Unterstützung. Derzeit gibt es wieder Tausende von heimatvertriebenen kurdischen Familien innerhalb des Landes. Wenn die Türkei weitermacht wie bisher, wird sie erneut kurdische Flüchtlinge für Europa produzieren, wie dies bereits in den 1990er Jahren der Fall war.
Das Interview führte Ceyda Nurtsch.
© Qantara.de 2016
Bilgin Ayata ist zurzeit Assistenzprofessorin für Politische Soziologie an der Universität Basel. Sie studierte an der York University in Toronto, Kanada, und promovierte an der Johns Hopkins Universität, USA. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen der Kurdenkonflikt, Migration und Transformationsprozesse.