Erdoğans Doppelstrategie
Jahre lang hielt sich die türkische Regierung mit Angriffen auf den so genannten Islamischen Staat (IS) zurück. Doch seit Freitag (24.07.2015) bombardieren türkische Kampfflugzeuge Stellungen des IS in Syrien. Außerdem hat Ankara den USA erlaubt, Luftangriffe von dem strategisch günstig gelegenen Stützpunkt Incirlik aus zu starten.
Parallel dazu hat die türkische Armee damit begonnen, Stellungen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in der Türkei und im Nordirak zu bombardieren. Den Friedensprozess mit der von den USA und der EU alsTerrororganisation eingestuften PKK erklärte Staatspräsident Erdoğan am Dienstag (28.07.2015) für beendet. "Es ist nicht möglich, einen Lösungsprozess fortzuführen mit denjenigen, die die Einheit und Integrität der Türkei untergraben", sagte er.
Kein Interesse an einer politischen Lösung
“Erdoğan ist nicht mehr an einer politischen Lösung des Konflikts mit Damaskus und der PKK interessiert“, sagt Ismet Akça, Politikwissenschaftler und Militärexperte von der Istanbuler Yildiz Teknik Universität. Seine Begründung: Nur mit den zu erwartenden Unruhen in der Türkei könne Erdoğan seinen Einfluss sichern und sich die ihm gefährlich gewordene prokurdische Partei „Demokratie der Völker“ (HDP) vom Hals halten.
Die HDP hatte bei der Parlamentswahl im Juni überraschend viele Stimmen erhalten und dazu beigetragen, dass Erdoğans islamisch-konservative Partei AKP ihre absolute Mehrheit verlor. Nach zwölf Jahren muss sich die AKP nun erstmals einen Koalitionspartner suchen. Bislang ist das nicht gelungen; Neuwahlen werden immer wahrscheinlicher. Und deshalb, meint der Politikwissenschaftler Akça, sei ein Zweifrontenkrieg gegen den IS und gegen die PKK für Erdoğan sogar vorteilhaft.
Aufhebung der parlamentarischen Immunität?
“Erdoğan setzt jetzt auf eine nationalistisch-militärische Strategie. Er will den Türken zeigen, dass es ohne eine stabile AKP-Regierung wieder Terror in der Türkei geben wird“, sagt Akça. Das Staatsoberhaupt provoziere die PKK, damit diese zurückschlage. Deren Angriffe, meint Akça, könnten das Ansehen der HDP schädigen, weil die Partei tatsächlich enge Verbindungen zur PKK unterhält.
Am Dienstag (28.07.2015) forderte Erdoğan, die die Aufhebung der parlamentarischen Immunität von HDP-Chef Selahattin Demirtas und anderen führenden Parteifunktionären. "Wer immer mit der Terrororganisation verbandelt ist, wer immer sich an eine Terrororganisation anlehnt, der muss den Preis dafür bezahlen", sagte Erdoğan.
Vorübergehende Annäherung an Assad
Dabei hatte es lange so ausgesehen, als könnten sich die türkische Regierung und die PKK tatsächlich einander annähern. In der Zeit, als Erdoğan Ministerpräsident war, wurden etliche Reformen zugunsten der Kurden umgesetzt. Außerdem wurden Verhandlungen mit PKK-Chef Abdullah Öcalan aufgenommen, und Ankara näherte sich nach Jahrzehnte langer Eiszeit wieder Damaskus an.
Erdoğan und Assad verstanden sich damals so gut, dass der Türke den Syrer einen "Bruder" nannte. Die Familien der beiden Politiker verbrachten 2008 sogar gemeinsame Urlaubstage im türkischen Badeort Bodrum. Die Visumspflicht zwischen den beiden Ländern wurde aufgehoben, die Kabinette tagten gemeinsam.
Sorge vor einem kurdischen Staat
Als im März 2011 zahlreiche Syrer auf die Straße gingen, um friedlich gegen die Baath-Diktatur zu protestieren, versuchte Erdoğan zunächst, Assad zu Reformen zu bewegen. Dieser machte tatsächlich Zusagen, die Erdoğan öffentlich lobte – um dann zu erleben, dass Assad seine Versprechen nicht einhielt. Seitdem gehört Ankara zu den schärfsten Gegnern Assads, und Damaskus wirft dem einstigen Badefreund vor, Terroristen zu unterstützen.
Inmitten der Kriegswirren bildete sich im Norden Syriens eine autonome kurdische Region, die von den Kurden „Rojava“ (Westen) genannt wird. Dabei handelt es sich um ein Gebiet, das sich im Grenzgebiet von Syrien, dem Irak und der Türkei fast 600 Kilometer entlang der syrisch-türkischen Grenze erstreckt. Erdoğan, der die Unabhängigkeitsbestrebungen der Kurden noch mehr zu fürchten scheint als die IS-Dschihadisten, stellte klar, dass er einen kurdischen Staat niemals dulden werde.
Erstarken der Extremisten
Als der IS im vergangenen Herbst die kurdische Stadt Kobane an der türkisch-syrischen Grenze überrannte, schaute Ankara den Angriffen der Extremisten tatenlos zu. Die AKP-Regierung wurde beschuldigt, mit ihrer "Politik der offenen Grenzen" zum Erstarken des IS und zur Schwächung der Kurden beigetragen zu haben. Außerdem wurde Erdoğan vorgeworfen, in der Hoffnung auf einen schnellen Sturz des Assad-Regimes die Gefahr durch den IS ignoriert zu haben.
Wer das öffentlich behauptete, bekam Erdoğans Zorn zu spüren. Als die US-Tageszeitung “New York Times“ im September 2014 suggerierte, die AKP unterstütze den IS, schimpfte der türkische Präsident, die Behauptungen seien Lügen.
Nachdem die regierungskritische türkische Tageszeitung “Cumhuriyet“ Ende Mai Aufnahmen veröffentlichte, die eine Waffenlieferung des türkischen Geheimdienstes für die IS-Dschihadisten in Syrien Anfang 2014 belegen sollten, leitete die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen Chefredakteur Can Dündar ein. Erdoğan höchstpersönlich soll die Anzeige wegen Terrorpropaganda und Spionage eingereicht haben, teilte Dündar auf Twitter mit.
Rückhalt durch die Nato
Doch Erdoğans Taktik des Zurücklehnens, Wegschauens und Wegsperrens funktioniert seit dem Anschlag in der türkischen Stadt Suruç mit 32 Toten nicht mehr. Neben der Bedrohung durch den IS, der für die Tat verantwortlich sein soll, und der Angst vor den Kurden hat den Präsidenten das ernüchternde Ergebnis der Parlamentswahlen eingeholt. Allein in den vergangenen drei Tagen soll die türkische Luftwaffe mindestens 300 Bomben im Nordirak abgeworfen haben.
Dass die Nato der Türkei am Dienstag (28.07.2015) Rückhalt zusicherte, Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg von „starker Solidarität“ sprach und auf jegliche Kritik an der Aufkündigung des Friedensprozesses mit der PKK verzichtete, hat Erdoğans Position weiter gestärkt. Die Türkei werde ihren Militäreinsatz gegen den IS und die PKK "mit Entschlossenheit" fortsetzen, hat der Staatspräsident schon angekündigt. Ein "Schritt zurück" komme nicht in Frage.
Cigdem Akyol
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