Mütter an vorderster Front gegen den Terror
Sie bezeichnen Mütter als bisher übersehene Expertinnen, die in der Radikalisierungsprävention eine große Rolle spielen. Was können Mütter, was Väter nicht können?
Edit Schlaffer: Ihre Bereitschaft, sich offen mit einer möglichen oder bereits erfolgten Radikalisierung ihrer Kinder auseinanderzusetzen, ist stärker ausgeprägt als bei den Vätern. Ein weiterer Faktor: Mütter tun sich mit der Übersetzung ihrer Emotionen leichter, auch in der Beziehung zu ihren Kindern. Diese "emotionale Nabelschnur" ist eine Ressource. Ich denke, der IS fürchtet diese Zugkraft, es gab etwa übers Internet viele Aufrufe, den Müttern nicht zu glauben und sich abzukapseln.
Wie äußert sich diese "emotionale Nabelschnur"?
Schlaffer: Selbst wenn sich junge Leute dem IS in Syrien angeschlossen haben, suchen sie fast ausnahmslos den Kontakt zu ihren Müttern. Sie melden sich über Whatsapp, Telefon oder Email, im Schnitt mindestens einmal die Woche. Da kommen dann unfassbare Nachrichten wie: 'Mama, ich liebe dich. Verzeih mir, ich musste es tun.' Oder: 'Ich will helfen. Ich will ein Leben haben, auf das ich stolz sein kann.' Jene aber, bei denen der Prozess der Desillusionierung eingesetzt hat – bei Mädchen ist das nach rund sechs Monaten, bei Burschen häufig nach zwölf – melden sie sich auch mit anderen Botschaften. Einer etwa, der erkannt hat, dass er nur Kanonenfutter ist, hat seiner Mutter geschrieben: 'Ich habe so wahnsinnige Angst, morgen muss ich in den Kampf. Wir sind zu sechst und haben nur ein Gewehr. Wer wird überleben?'
Können Mütter zu diesem Zeitpunkt noch etwas ausrichten?
Schlaffer: In den wenigsten Fällen gelingen Rettungsaktionen, oft ist es da schon zu spät. Der IS entlässt seine Leute ja nicht freiwillig. Die Rückreise ist eine Frage des Überlebens.
Zurück zur Phase der Radikalisierung: Was können Mütter tun, wenn sich die ersten Frühwarnsignale zeigen?
Schlaffer: Das Um und Auf ist es, die emotionale Verankerung des Kindes innerhalb der Familie zu stärken, also: auf das Kind mit seinen veränderten Verhaltensweisen offen zugehen, zuhören, Empathie und Interesse zeigen. Wenn sich das Kind angenommen fühlt, wird es auch mehr erzählen, man lockt es sozusagen in die eigene Richtung. Wenn das nicht gelingt sollte man Hilfe von außen holen. Man darf sich keinesfalls verstecken oder das kaschieren. Es geht um Kommunikation und Kontakt. Das ist ja, was der IS so gut beherrscht: Die Dschihadisten investieren in jeden Jugendlichen mindestens hundert Stunden, bis sie jemanden rekrutiert haben. Diese Off- und Onlinegespräche werden mit einer unheimlichen Zuwendung und Geduld durchgeführt – und das funktioniert! Dieses Terrain der Emotionen dürfen wir nicht dem IS überlassen.
Was heißt das konkret? Angenommen, eine Mutter beobachtet, wie sich ihr Kind ein IS-Propagandavideo anschaut. Wie sollte sie auf eine solche Situation reagieren?
Schlaffer: Was sie nicht machen sollte: Die Tür zuschlagen oder auf Konfrontation gehen. Vielmehr sollte sich die Mutter öffnen und auf die Situation eingehen. Sie könnte beispielsweise sagen: 'Das sieht interessant aus, kann ich mir das auch mal anschauen?' Das Kind wird sich so oder so das Video ansehen, daher es unbedingt gemeinsam tun, eine Diskussionsbasis schaffen. Dann – und ich glaube, das ist die potenzielle Stärke von Müttern – geht es darum, diesen Ansatz von Zweifel und Ambivalenz im Kind zu erzeugen. In der Situation mit dem Video etwa, dass sie bei einer besonders brutalen Szene sagt: 'Für mich ist das schwer auszuhalten. Ich frage mich, was denkt sich die Mutter dieses Jungen, dem das jetzt widerfahren ist?' Solche Verhaltensweisen trainieren wir in den Mütterschulen. Wir müssen an den jungen Menschen so dicht wie nur irgendwie möglich dran sein. Das Zeitfenster der Radikalisierung wird ja immer enger. Mittlerweile geht das oft blitzartig und Jugendliche brechen innerhalb von drei Monaten nach Syrien auf. Was wir dabei aber auch stärker erkennen sollten: Mitunter sind sie sich ihrer Sache nicht einmal so sicher.
Wie das?
Schlaffer: Ein Beispiel: Ein 17-Jähriger wollte sich dem IS anschließen. Seine Mutter hat eines Tages sein Bett leer vorgefunden und wusste sofort, dass er auf dem Weg nach Syrien war. Sie hat sich ins Flugzeug gesetzt und ist an die syrisch-türkische Grenze geflogen. Irgendwie gelang es ihr, ihn doch noch ausfindig zu machen, und bat ihn schließlich um ein Verabschiedungstreffen. Er stand kurz vor seiner Rekrutierung und befand sich noch im Grenzgebiet. Und tatsächlich kam es dann noch zu dem Treffen. Die Mutter hat dabei mit keinem einzigen Wort seine Mission in Frage gestellt. Sie hat ihm nur gesagt, wie glücklich sie sei, dass sie ihn verabschieden könne, aber dass sie ihn bitte, vor seiner Rekrutierung noch eine äußerst wichtige familiäre Angelegenheit in der Heimat zu regeln, was natürlich nur ein Vorwand der Mutter war. Der Junge ließ sich überreden – und ist nie mehr nach Syrien zurückgekehrt. Die Mutter erzählte mir später, sie hatte bereits auf dem Flug zurück das Gefühl, dass er richtiggehend erleichtert war, aus dem Ganzen draußen zu sein.
Worin besteht eigentlich der neuralgische Punkt, an dem junge Leute von IS-Rekrutierern emotional ausgehebelt und auf deren Seite gezogen werden?
Schlaffer: Vorab: Die wirklich gefährdete Gruppe ist im Alter von etwa 16 bis Mitte 20 Jahren. Es sind junge Leute auf der Suche nach ihrer Rolle im Leben und nach Anerkennung. Wenn das nicht gelingt, werden sie verletzlich gegenüber "toxischen Einflüssen" von außen. Ein Grund, weshalb Jugendliche mit Migrationshintergrund im Schnitt gefährdeter sind: Sie haben in unserem System schwierigere Einstiegsszenarien und werden meistens als "Problem", nicht aber als Potenzial gesehen. Der IS dagegen sagt: 'Wir brauchen Euch und zwar mit allen Euren Qualifikationen! Ihr seid die Bausteine des Kalifats.' Diese teilweise fast irreale Anerkennung, die die jungen Leute bekommen, ist einer der echten "Pullfaktoren" bei der Rekrutierung. Die Religion spielt in der Regel eine sekundäre Rolle – sie ist das Accessoire, die Rechtfertigung. In der Essenz geht es um identitätsstiftende Motive. Und da müssen wir uns im Westen auch fragen: Was bieten wir diesen Jugendlichen eigentlich an? Wir haben es hier mit einem gesamtgesellschaftlichen Problem zu tun. Vieles ist in eine ziemliche Schieflage geraten.
Sie haben mit unzähligen Müttern gesprochen, deren Nachwuchs nach Syrien aufgebrochen ist. Wie gehen die damit um?
Schlaffer: Zunächst einmal herrscht grenzenlose Verzweiflung und unendlicher Schmerz. Gleichzeitig haben sie das Gefühl der totalen Isolation, Schande und Scham. Interessant ist aber, dass ausnahmslos alle ein starkes Bedürfnis haben, anderen Müttern zu helfen. Sie sagen: Ich will andere Mütter davor bewahren, das durchzumachen, was ich erlebt habe.
Mittlerweile gibt es Extremismushotlines, Beratungsstellen und Deradikalisierungsprogramme. Sind Mütterschulen der Königsweg?
Schlaffer: Nein, es gibt nicht diesen einen Königsweg. Wir müssen an so vielen Ebenen gleichzeitig ansetzen und auch gewisse Gruppen stärker einbeziehen, etwa die Lehrkräfte. Die Schule ist der erste Ansprechpartner außerhalb der Familie und der einzig verpflichtende Ort, an dem die Jugendlichen zusammenkommen. Hier sind die Lehrer gefordert. Wir müssen unsere Waffen schärfen und alles mobilisieren, um die Abwehrkräfte der jungen Leute zu stärken.
Das Interview führte Iris Mostegel.
© Qantara.de 2016
Edit Schlaffer, 65, ist österreichische Sozialwissenschaftlerin und feministische Publizistin. 2002 rief sie die Organisation "Frauen ohne Grenzen" ins Leben, 2008 erfolgte die Gründung der ersten weiblichen Anti-Terror-Plattform SAVE (Sisters Against Violent Extremism). Gemeinsam mit Ulrich Kropiunigg, Forschungsdirektor von "Frauen ohne Grenzen", befragte sie für die Studie "Mothers for Change!" (2014) tausend Mütter, deren Kinder radikalisiert worden waren. Schlaffer wurde mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Soroptimist International Europe Friedenspreis 2015.