Künstler als treibende Kräfte des Wandels
Der arabische Frühling hat viele Staaten in Nordafrika und Nahost grundlegend verändert. Das Goethe-Institut in Kairo liegt wenige Meter entfernt vom Tahrir-Platz, dem Epizentrum der "Arabellion". Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Günther Hasenkamp: Nach Mubaraks Sturz lag viel Euphorie in der Luft. Vor dem Institut war ein demolierter Stasi-LKW geparkt mit einem bezeichnenden Graffiti darauf: "The End". Die Zeichen standen auf radikalem Neubeginn. Man hatte Lust, Kairo als Großbaustelle einer neuen Gesellschaft zu betrachten, auch wenn da die Architekten nicht zu sehen waren. Doch diese Heiterkeit war binnen Wochen verflogen. Nach und nach, spätestens nach dem Sommer, wurde die Enttäuschung größer. Die Nach-Revolution ist ja, wie die berühmten 18 Tage im Januar und Februar, ein sehr emotionaler Prozess. Man erlebt das direkt mit – nicht nur, weil man im Büro jeden Sprechchor vom Tahrir hören kann.
Arabische Kulturschaffende waren und sind ein wichtiger Teil der Revolution. Wie macht sich dieser historische Umbruch in Ihrer Kulturarbeit vor Ort bemerkbar?
Hasenkamp: Kultur kann ein Seismograph für gesellschaftliche Verhältnisse sein, ohne dass sie zu flacher Sozialdiagnostik verkommt. Im vorrevolutionären Ägypten gibt es dafür zahlreiche Beispiele, Al-Aswanis Roman "Das Yacoubian-Haus" und Ahmad Abdallas Film "Microphone" sind bekannte Beispiele.
Weniger bekannt ist das Underground-nahe Universum der unabhängigen Kurzfilmer, die gleichsam unter dem Radar der Zensur fliegen. In unserem Projekt "Arab Shorts" sind solche Arbeiten zu sehen. Womit beschäftigen sich diese Künstler? "Wir sind nicht die Ärzte", hat Alexander Herzen im fernen 19.Jahrhundert gesagt: "Wir sind der Schmerz". Das beschreibt die vorrevolutionäre arabische Kultur recht gut. Insofern brauchte man sich nicht zu wundern, so viele Kulturaktivisten unter den Revolutionären zu finden.
Doch die Revolution hat das Leben der Menschen ja sehr grundlegend erschüttert. Man ist aus der Vereinzelung hervorgetreten in eine neue Kollektivität, auch wenn diese wie im Fall der Facebook-Communities nur virtuell ist. Das Private ist plötzlich politisch geworden und das Öffentliche gewissermaßen privat. Demonstranten nahmen einen Besen in die Hand um auf dem Tahrir die Straße zu fegen. Denn jetzt war es "ihr" Platz und nicht mehr der polizeibewachte fremde Raum. Hier hat eine Wiederaneignung stattgefunden. Man hat eingenommen, was einem entwendet worden war – ein Gefühl, das der Occupy-Bewegung anderswo auf der Welt sicher sehr nachvollziehbar ist, bei allen sonstigen Unterschieden.
Das ist alles sehr vielschichtig und komplex. Im Dezember haben wir, zusammen mit der Kulturorganisation "Al-Mawred Al-Thaqawy", versucht, einige dieser Zusammenhänge auf einem "Forum" mit arabischen und europäischen Gästen zu diskutieren – da schwankte die Stimmung zwischen Euphorie und Depression. Solche schwankenden Situationen kommen jetzt oft vor.
Deutschland und Europa wurden vom Ausbruch der Revolutionswelle vor einem Jahr überrascht. Wie hat das Goethe-Institut auf diese dramatischen Ereignisse reagiert?
Hasenkamp: Es war schnell deutlich, dass die demokratischen Kräfte im Wortsinn keinen "Raum" hatten, sich zu entfalten. Wir haben dann unsere ehemalige Galerie demokratischen Jugendinitiativen zur Verfügung gestellt und sie in "Tahrir Lounge" umbenannt. In Selbstverwaltung der jungen Leute entstand da sehr schnell ein reger Versammlungs- und Seminarbetrieb, auch Konzerte und sogenannte "Tweet Nadwas", wo man ein Thema diskutiert während dazu Twitter-Nachrichten auf eine Wand projiziert werden. Die Aktivitäten der "Tahrir Lounge" sind im Grunde politische Bildungsarbeit.
Schon im März starteten wir im Internet ein Webjournal namens "Transit". Wir wollten, wie bei einem "Zeit-Recorder", junge Leute bitten mitzuschreiben, welche Themen, Stimmungen und Diskussionen sie jetzt bewegen. Nicht unbedingt, um es zu dokumentieren – sondern weil der historische Moment da war, ohne Angst vor Repression zu sagen, was man denkt. Alles sehr direkt, sehr wirklichkeitsnah, sehr eindrucksvoll.
Unser bestehendes Engagement für den arabischen Film erwies sich als hilfreich. Im Sommer veranstalteten wir mit dem Berliner "Arsenal" eine arabische Filmwoche. Da konnten wir zeigen, welche Bedeutung die unabhängigen, staatsfernen Szenen hatten.
Sie möchten den jungen Demokratieaktivisten also Raum zum Diskutieren und Debatieren geben. Unter dem Mubarak-Regime durften viele Kulturinstitutionen politische Themen nicht ansprechen. Wie frei können Sie als Kulturakteur agieren, existieren zensurfreie Räume?
Hasenkamp: Unter Mubarak war es sehr wichtig, dass es geschützte Räume gab. Der 25. Januar und erst recht der 11. Februar, der Sturz des Diktators, waren dann wie eine Erlösung: Endlich konnte man frei politisch diskutieren! Es hat nicht lange gedauert, bis das Militär begann, massiv gegen Kritiker vorzugehen.
Aktuell müssen sich einige Nichtregierungsorganisationen – einige amerikanisch unterstützte, aber auch die Konrad-Adenauer-Stiftung – bedroht fühlen, deren Büros durchsucht und deren Mitarbeiter soeben mit Ausreiseverbot belegt worden sind. Hier tut sich ein unschöner Widerspruch auf: Während westliche Regierungen die Förderung der "Zivilgesellschaft" als Beitrag zum demokratischen Aufbau verstehen, sehen das Militär bzw. staatliche Stellen eben jene "Zivilgesellschaft" als Bedrohung, als Agent der Destabilisierung an. Und noch etwas kommt hinzu: Nach dem Wahlsieg der islamistischen Parteien wird gerade von den Kulturszenen sehr aufmerksam beobachtet, ob die neue Regierung der Kultur den nötigen Freiraum lässt. Es könnte also sein, dass geschützte Räume ihre Bedeutung behalten.
Vielleicht muss ein Kulturinstitut ohnehin so etwas sein wie ein "Feldlazarett" – ein Ort außerhalb irgendwelcher Kampfzonen, ein Ort des Rückzugs, wo man sich kümmert, gerade wenn etwas zerbrochen ist und Ungewissheit herrscht, wie es weiter geht.
Seit dem Ausbruch des arabischen Frühlings hoffen viele arabische Kulturschaffende in der Region auf einen schnellen Wandel. Nun ist die anfängliche Begeisterung, wie Sie es gerade beschrieben haben, merklich gedämpft. Welche Möglichkeiten hat die internationale Kulturarbeit, bei der Gestaltung des Übergangprozesses zu helfen?
Hasenkamp: Eine gewisse Niedergeschlagenheit, durchmischt von Trotz und in Wellen erwachendem Widerstandswillen, ist derzeit spürbar. Beherrschend ist das Gefühl, dass die "Revolution" gleichsam "gekidnappt" wurde – vom Militär und von den Islamisten.
Viele Künstler, so geht ein Bonmot, produzieren derzeit entweder nichts oder jedenfalls nichts über die Revolution. Dabei kann man, gerade als Künstler, diesem Thema kaum ausweichen. Natürlich gibt es viel Deskription. Da sind die vielen Dokumentarfilme, deren ästhetische Verfahren zwar vorhersehbar bleiben, die aber durch die emotionale Kraft ihrer Bilder fesseln. Man bleibt eben nicht unbeteiligt, wenn man auf der Leinwand zusieht wie ein panisch werdender Polizist seine Pistole gegen Demonstranten abdrückt. Dann gab es Initiativen wie "Mayadin-al-Tahrir" (Deutsch: Tahrir-Platz), die mit kurzen Spielfilmen und Videoclips politische Bildungsarbeit im Vorfeld der Wahlen betrieben.
Am meisten Aufsehen erregen jene direkten politischen Interventionen, die mit künstlerischen Mitteln erfolgen. In Syrien ließen Aktivisten rote Farbe in öffentliche Springbrunnen ein, so dass "Blut" floss in der Stadt – bis die Behörden das Wasser abstellten. In Kairo fanden sich Befehlshaber der Polizei, die Schießbefehl gaben, auf "Wanted"-Plakaten und mit Schablonen gesprayt als Graffiti wieder. Die sarkastische und angriffslustige Straßenkunst, etwa der sich selbst so nennenden "Höhlenmenschen" in Tunesien, ist enorm populär.
Film und Theater sind vorwiegend dokumentarisch, und ein Schlüsselmedium derzeit ist das digitale Bild. Medieninitiativen wie "Mosireen" oder "Kazeboon" filmen Polizeigewalt und zeigen diese auf Youtube oder bei improvisierten Screenings auf Straßen und Plätzen, so beispielsweise beim "Tahrir Cinema" im letzten Sommer.
An diesem Wochenende hat man, aus einer Demonstration heraus, direkt an den Büroturm des staatlichen Fernsehens Filmbilder projiziert, die dort niemals gesendet würden – das waren "Gegen-Bilder" im Wortsinn und Versuche zu zeigen, wie es "wirklich" ist. Das erscheint als Gebot der Stunde, und "No time for art" heißt denn auch ein dokumentarisches Theaterstück der jungen ägyptischen Regisseurin Leila Soliman vom vergangenen Jahr.
Es zeichnet sich aber ein paralleler Prozess ab, eine Explosion der Kreativität, die von einem starken Bedürfnis nach kultureller Selbstvergewisserung getragen wird. Und in Diktaturen geht ja mit der Freiheit auch die Schönheit verloren. Allerorten entstehen junge Bands, neue Theaterstücke und zahlreiche Filme, und man wird ein neues Interesse an der eigenen Geschichte vorhersagen können. Aber es gibt zu wenige Kulturzentren, Bühnen, Proberäume. Die kulturelle Infrastruktur reicht nicht aus, hier sind Investitionen nötig. Auch fehlt es an Know How. Professionelle Kulturmanager zum Beispiel sind wirklich Mangelware. Hier kann die internationale Kulturarbeit sinnvolle Angebote machen. Hier liegen auch die Schwerpunkte der kulturellen "Transformationspartnerschaft", die das Auswärtige Amt mit Ägypten vereinbart hat.
Welche Erwartungen haben arabische Kulturschaffende an Deutschland und Europa?
Hasenkamp: Was wir wahrnehmen ist, dass man ihnen zuhört. Dass der Westen ehrlich umgeht mit seiner langjährigen Unterstützung für die arabischen Diktaturen. Dass man keinen "akademischen Tourismus" pflegt, wo Kuratoren und Wissenschaftler einfliegen und die arabischen Kulturaktivisten lediglich als Auskunftsgeber und Materiallieferanten für eigene Produktionen betrachten. Man will endlich Selbstbestimmung – auch gegenüber dem Rest der Welt. Und man will Mobilität – Isolation war gestern.
Das Gespräch führte Loay Mudhoon
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de