Wer ist verantwortlich für die Gewalt?
Nach jedem Anschlag durch einen islamistischen oder christlich-fundamentalistischen Terroristen wird der Versuch unternommen, Terror mit einer bestimmten Religion in Verbindung zu bringen. Gleichzeitig erheben sich immer auch Gegenstimmen, die in aller Entschiedenheit jeglichen Zusammenhang zwischen Religion und Terrorismus bestreiten.
Der brutale Anschlag eines Terroristen christlichen Glaubens, der vor zwei Wochen 50 Muslime in Neuseeland das Leben kostete, hat die Diskussion um das Verhältnis von Religion und Terror erneut entfacht. Besonders Muslime nahmen den Anschlag zum Anlass, ihren Glauben zu verteidigen und klarzustellen, dass der Islam nichts mit Terrorismus zu tun habe. Andernfalls, so das Argument, wäre es gleichermaßen gerechtfertigt, aufgrund der Religionszugehörigkeit des Attentäters von Christchurch auf einen generellen Zusammenhang zwischen dem Christentum an sich und Terrorismus zu schließen.
Inmitten dieser meist emotional aufgeladenen Verteidigungsversuche gehen die eigentlich wichtigen Fragen unter, deren Beantwortung dazu beitragen könnte, Licht auf das komplexe und problematische Verhältnis von Religion und Terror zu werfen.
Fehlender Willen zur Differenzierung
Die zentrale Frage ist dabei, welches Verständnis von Religion und ihren Dimensionen es überhaupt ermöglicht, einen direkten Zusammenhang zwischen einem bestimmten Glauben und Terrorismus herzustellen. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf die Auseinandersetzung mit einer konkreten Ausgestaltung von Religion: ihrer sozialen beziehungsweise kulturell-historischen Dimension.
Die Versuche einen direkten Zusammenhang von Religion und Terrorismus zu beweisen oder zu widerlegen, zeugen von einem Religionsverständnis, das diese als unabhängig von der Welt versteht, in der sie praktiziert wird. Mit anderen Worten: Religion wird als ein Korpus heiliger Botschaften betrachtet, die isoliert von der Lebenswelt der Gläubigen existieren.
Denjenigen, die Religion so sehen, fällt es leicht, Aussagen zu treffen wie "Das hat mit dem Islam nichts zu tun!", oder "Den Islam trifft keine Schuld an solchen Verbrechen!" und sich dabei auf Zitate aus den heiligen Schriften zu berufen, die für Frieden und ein verträgliches Miteinander plädieren.
Trotz ihrer guten Absichten übersehen sie dabei, dass ihre Gegenspieler genau den gleichen Ansatz verfolgen, nur mit entgegengesetzter Schlagrichtung. Auch sie lösen die Texte, und damit die Religion, aus ihrem historischen Kontext, beschränken sich in ihrer Lesart jedoch auf den feindseligen Inhalt und versuchen ihrerseits diesen anhand ausgesuchter Textstellen zu belegen, die oberflächlich gelesen, Gewalt und Kriege legitimieren.
Die klare Trennung zwischen Text und menschlicher Lebenswelt, die sich in diesem Vorgehen zeigt, ist allerdings nicht haltbar: Man kann religiöse Schriften nicht im "luftleeren Raum" abseits konkreter Lebensrealitäten lesen und interpretieren. Natürlich trifft das selbstverständlich auf den Islam genauso wie auf das Christentum und andere Religionen gleichermaßen zu.
Verschiedenen Lesarten und Interpretationen durch den Menschen
Erkenntnistheoretisch gesehen, ist eindeutig, dass man keine klare Grenze ziehen kann, zwischen dem Text auf der einen sowie seiner Interpretation und Umsetzung durch die Gläubigen auf der anderen Seite. Es ist der Mensch, der ihn entsprechend seiner kulturellen Prägung, seiner Umwelt und der politischen und wirtschaftlichen Lebensumstände liest und versteht.
Eine Ansicht, die wohl auch der Kalif Ali teilte, von dem die Aussage überliefert ist, dass es nicht die Seiten des Korans seien, die sprechen. Es seien vielmehr die Menschen, durch die er spreche. Kein Text steht für sich unabhängig von den Lebenswelten, er interagiert mit ihnen mittels der Menschen. Die konziliante Auslegung der religiösen Schriften setzt sich daher immer dann durch, wenn Toleranz auch ein wichtiger Bestandteil der Geisteshaltung der Menschen ist.
Immer wenn hingegen die Idee der Menschenwürde und Gleichheit aller an Stellenwert verliert, fällt die Interpretation der Schriften – unabhängig von der Religion – diskriminierend und feindselig aus und kann sogar zur Rechtfertigung von Akten des Terrors dienen. Ihre Andersartigkeit wird in dieser Lesart ein Grund, Menschen anderen Glaubens, anderer Ethnien oder anderer Kulturen zu hassen. Nicht selten bezieht sich der Hass auf alle genannten Unterschiede, da sich das eine oft nicht ohne weiteres vom anderen trennen lässt.
Die Auseinandersetzung mit der historisch-kulturellen Dimension der Religion kann uns helfen, komplexe Phänomene wie die Entkoppelung der religiösen Ehrerbietung (durch das Gebet beispielsweise) von damit eigentlich selbstverständlich einhergehenden Attributen wie Demut, Gläubigkeit, Friedfertigkeit und innere Ruhe zu verstehen, die leider nicht mehr deren Voraussetzung sind, sondern ihr Ziel.
Einst waren es die Kharidschiten, heute der IS: Immer wieder gibt es Bewegungen und Einzelpersonen, deren vermeintliche, an Gebeten und Einhaltung zeremonieller Riten gemessene Gottesfurcht nur noch durch ihre Brutalität übertroffen wird. Heilig ist für sie die religiöse Ehrerbietung, nicht aber der Mensch und seine Würde – unabhängig von seiner Religion.
Um den Bogen zum Verhältnis von Religion und Terror zu schließen: Der immer wiederkehrende Versuch, einen Zusammenhang zwischen Religion – beziehungsweise religiös begründeten Überzeugungen – und Terror grundsätzlich in Abrede zu stellen, spricht dafür, dass es eben doch einen Zusammenhang gibt. Denn wenn die Verschränkung zweier Aspekte derart vehement bestritten wird, zeugt dies von der Schwierigkeit, das eine vollkommen isoliert vom anderen zu denken.
Ineinanderfließen des Religiösen und des Kulturellen
Die verschlüsselten Botschaften des Terroristen, der den Anschlag auf die Muslime in Neuseeland verübte, zeigen das Ineinanderfließen des Religiösen und des Kulturellen sowohl in der Geschichte des Christentums als auch der des Islams. Vielleicht sollte man auch sagen, der Geschichte des Westens und des Islams, insofern die Grenzen zwischen Religion und Kultur derart verschwommen sind, dass das intuitive Gegenstück zum Westen nicht mehr die geographische Bezeichnung des Ostens ist, sondern "das Islamische".
Obwohl negativ konnotiert, ist diese Entwicklung nicht nur auf die Reduktion "des Ostens" auf die Religion durch die westliche Welt zurückzuführen, sondern auch darauf, dass er sich selbst auf diese Dimension reduziert und sich in erster Linie als islamisch definiert, und erst dann geographisch oder ethnisch als arabisch.
Zur Klärung dieser Problematik, die mit der genauen Definition von Identitäten und der Frage der primären Zugehörigkeit zusammenhängt, bedarf es allerdings eine tiefergehende Auseinandersetzung, die den Rahmen dieses Artikels sprengen würde.
Dass Muslime Doppelstandards kritisieren, wenn Terror durch einen muslimischen Täter als islamistischer Terror bezeichnet wird, während Anschläge christlich-fundamentalistische Täter nicht als christlich-fundamentalistischer Terror, sondern als rechtsextremistisch eingestuft werden, ist berechtigt.
In dieser Kritik scheint aber auch das Bedürfnis durch, analog zum Islam einen Zusammenhang zwischen dem christlichen Glauben und dem Terror herzustellen. Das heißt, dass ihnen das Anliegen, einen grundsätzlichen Zusammenhang von Religion und Gewalt zu bestreiten, kein prinzipielles ist.
Der Konflikt zwischen dem Selbst und dem Anderen
Ihm liegt kein gereiftes und verinnerlichtes Verständnis von Religion und ihren sozialen, kulturellen, politischen sowie kognitiven Dimensionen zugrunde. Stattdessen entspringt es fast immer dem Konflikt zwischen dem Selbst und dem Anderen und den damit einhergehenden Schuldzuweisungen an das jeweilige Gegenüber.
Der Dualismus des Selbst und des Anderen ist dabei unzertrennlich verknüpft mit dem eigenen Selbstverständnis als islamisch und der Wahrnehmung des Anderen als christlich. Aber wie kann es sein, dass man im Anderen nur seine Religion sieht, während man es gleichzeitig ablehnt, von jenem auf diese Dimension reduziert zu werden?
Man kann einen Terroristen nicht losgelöst von seinem kulturellen Umfeld betrachten. Genauso wenig kann man die religiöse Dimension ohne die kulturellen Aspekte verstehen. Es ist entsprechend nicht möglich, Terror umfassend zu analysieren, wenn man dabei die religiöse Dimension außen vorlässt. Wie im Vorausgegangenen dargestellt, ist es trotzdem unredlich, eine Religion an sich für die Taten eines Terroristen verantwortlich zu machen.
Notwendig ist es aber, bestimmte, für den Terroristen kulturell prägende Aspekte in den Blick zu nehmen, um ein umfassendes Bild von ihm zu bekommen: die Sozialisierung, die religiöse Dimension seiner Erziehung und der vorherrschende religiöse Diskurs in seiner Lebenswelt.
Denn ob religiöse Schriften tolerant oder feindselig ausgelegt werden, ist eng an den historischen Kontext ihrer Interpretation gebunden. Die Verantwortung für Terror tragen daher in erster Linie die Menschen selbst, er ist nicht das Produkt der Religion an sich.
Assem Hefny
© Qantara.de 2019
Aus dem Arabischen von Thomas Heyne