Wind des Wandels
Die Revolutionen in der arabischen Welt und die tragende Rolle der Jugend haben viele in Europa überrascht. Zu lange war der Westen gewohnt, diesen Teil der Welt durch autoritäre Regime und rückständige, traditionalistische Gesellschaften repräsentiert zu sehen.
Dass die arabische Jugend längst nicht mehr in dieses Schema passte, wurde vielfach schlicht übersehen. Den alten Machthabern mit ihrer überholten Rhetorik und überkommenen Weltsicht stand eine Generation vielfach hoch ausgebildeter junger Menschen gegenüber, die mit größter Selbstverständlichkeit die neuen digitalen Kommunikationsformen des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts angenommen haben.
Freier Umgang mit Tabu-Themen
Vor allem junge Videokünstler und Filmemacher widmen sich seit einiger Zeit einer Vielzahl von sozio-kulturellen und sozio-politischen Themen, wobei oft ein für Außenstehende erstaunlich freier Umgang mit Tabu-Themen zu beobachten ist.
Sahen sich frühere Generationen von bildenden Künstlern mit wenigen Ausnahmen eher als distanzierte Beobachter der Gesellschaft und weniger als aktive Mitgestalter, so hat sich seit den späten 1990er Jahren eine neue Künstlergeneration etabliert, die sich nicht länger als von der Gesellschaft abseits stehend betrachtet, sondern von dem Wunsch getragen wird, aktiv an der der Gestaltung neuer gesellschaftlicher Ansätze beizutragen.
Film und Video entwickelten sich hierfür zu bevorzugten künstlerischen Medien. Günstig in der Anschaffung und wenig platzaufwendig – die fertigen Arbeiten sind leicht zu transportieren und zu verschicken – ermöglichen sie durch ihre Position an der Schnittstelle zwischen Film und visueller Kunst eine größere Exponiertheit als traditionelle Medien, indem sich sowohl Filmfestivals als auch Kunstevents als Präsentationsfläche anbieten.
Auch sein unmittelbar aktiver Charakter macht dieses Medium so beliebt. Der/die Künstler/in ist nicht an ein Atelier gebunden, ist gesellschaftlich nicht abgehoben, sondern kann seine/ihre Kunst auf die Straße tragen, sich unter die Leute mischen und Themen angehen, die für alle Bürger aktuell und relevant sind. Für eine Generation, die häufig das Gefühl hatte, wenig gegen inakzeptable Lebensumstände tun zu können, schien diese Art der direkten gesellschaftlichen Interaktion besonders attraktiv zu sein.
In der Tradition des sozialkritischen Kinos
Dabei hat Film neben Literatur als Medium der sozialen Kritik in der arabischen Welt durchaus eine lange Tradition.
Filmemacher wie die Libanesen Borhan Alaouié, Maroun Baghdadi und Randa Chahal, die Syrer Mohamad Malas, Oussama Mohammad und der erst kürzlich verstorbene Dokumentarfilmemacher Omar Amiralay, die Ägypter Youssef Chahine, Daoud Abdel Sayed und die Pionierinnen des maghrebinischen feministischen Kinos, Moufida Tlatli, Farida Ben Lyazid und Néjia Ben Mabrouk gehören u.a. zu dieser langen Liste von Filmemachern, die in ihren Filmen oft mit erheblichem persönlichem Risiko immer wieder gesellschaftliche Missstände thematisiert und Verfehlungen ihrer Regierungen kritisiert haben.
Auf diese visuelle, kritische Tradition können sich junge "Videasten" genauso beziehen, wie auf ihre Stellung innerhalb der globalen zeitgenössischen Kunstszene.
Das gesellschaftliche Engagement der jungen Künstlergeneration zeigt sich in Arbeiten, die sich kritisch mit einer Vielzahl von Themen auseinandersetzen. Die Auswirkungen von Krieg und Bürgerkrieg auf die Gesellschaft, offizielle Geschichtsschreibung und Rhetorik – diese Themen werden genauso untersucht und hinterfragt wie Geschlechterrollen und der Umgang mit Medien.
Bei vielen Künstlern der arabischen Diaspora nimmt die internationale Stigmatisierung von Arabern in der westlichen Wahrnehmung eine zentrale Rolle ein. Im ästhetischen Zugang zeigen sich Einflüsse von ganz unterschiedlichen Richtungen, auch von außerhalb des eigentlichen Kunst-Diskurses. So bieten der europäische Autorenfilm, das internationale Dokumentarkino, US-amerikanische Trash-Filme, Fernsehwerbung und TV-Nachrichtensendungen verschiedenartige visuelle Referenzen.
Meist wird mit historischen Texten und found footage, d.h. bereits vorhandenem Film- und Foto-Material, gearbeitet. Und manchmal wird bewusst auf technische Raffinesse verzichtet und im "rohen" Stil von Home-Videos gearbeitet, um so eine größere Nähe zum Publikum zu erreichen.
Gegen westliche Klischees und Stereotype
Die Ästhetik der Pop-Kultur wird von vielen Künstlern benutzt, um ernste gesellschaftliche Themen anzusprechen und dabei ein größeres Publikum zu erreichen, als es mit den traditionellen Methoden wie etwa des Dokumentarfilmes möglich wäre.
So benutzt beispielsweise die irakisch-kanadische Video- und Filmemacherin Hala Alsalman in ihrem Kurzfilm "Phatwa" (2008) das Format des Pop-Videos mit eingefügten Cartoon-Elementen, um auf humorvoll-ironische Weise die gängige Praxis des "Profiling" sowie das westliche Stereotyp vom "arabischen Terroristen" zu hinterfragen.
Mit ganz ähnlichen Mitteln arbeitet die palästinensische Künstlerin Larissa Sansour, um internationale politische Diskurse zu kommentieren. In dem Video "Sbara" (2008), das starke Referenzen an Stanley Kubrick’s Horror-Klassiker "The Shining" aus dem Jahr 1980 aufweist kritisiert die Künstlerin die Dämonisierung des arabisch-muslimischen "Anderen" im westlichen Diskurs.
Die Tunesierin Moufida Fedhila verwendet eine strenge schwarz-weiße Ästhetik, die an die Aufnahmen aus den gerade befreiten Konzentrationslagern erinnern, um die Abgrenzungspolitik einer italienischen Stadt gegenüber afrikanischen Immigranten in Frage zu stellen.
Die Konflikte des Einzelnen mit Autoritäten und gesellschaftlicher Härte spielten schon immer im syrischen Autorenfilm eine große Rolle und stehen auch in vielen Arbeiten von Filme- und Videomachern der jungen Generation im Mittelpunkt. Somit schreiben diese sich einerseits in die syrische Tradition sozialkritischer Kunst ein, andererseits folgen sie der regionalen Bewegung junger kritischer Video- und Filmkunst.
Zivilcourage und Widerstand
Die Filmemacherin Reem Ghazzi kritisiert in dem experimentellen Dokumentarfilm "Crack" (2007) die Brutalität arbiträrer Verhaftungen und zeigt die Geschichte eines verbitterten Mannes, der sich, nachdem sein geliebter Sohn zum Gefängnis verurteilt wurde, beschlossen hat, sich von der Gesellschaft und ihrer Grausamkeit zurückzuziehen.
Wo Ghazzis Film einen physischen Rückzug aus der Gesellschaft zeigt, so thematisiert Hazem Alhamwi in "Stone Bird" (2006) eine mentale Rückzugsstrategie, gewählt von einem Mann, der um einem unmöglichen persönlichen Konflikt zu entkommen, den Wahnsinn wählt.
Arbeiten wie diese zeugen von großem zivilem Engagement der jungen Künstlergeneration in der arabischen Welt. Und dass sie sich nicht auf Wörter und Bilder beschränken, zeigt heute u.a. die Initiative zum Boykott des Guggenheim Museums in Abu Dhabi, die von zwei Konzeptkünstlern ins Leben gerufen wurden: der Palästinenserin Emily Jacir und dem Libanesen Walid Raad.
Zusammen mit mittlerweile über 1.000 internationalen Künstlern, die die Petition unterschrieben haben, fordern sie bessere Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeitsmigranten, die am Bau beschäftigt sind und drohen andernfalls mit einer Weigerung, je in der Institution auszustellen.
Im Verlauf der Proteste in der gesamten Region setzten und setzen sich junge Künstler, Musiker und Filmemacher für Freiheit und individuelle Rechte ein. Dass die Jugend mit ihren Forderungen Erfolg haben würde, war für viele bis vor wenigen Monaten allerdings undenkbar gewesen.
Oder wie es der ägyptische Videokünstler Khaled Hafez formuliert hat: "Meine Generation hat sehr viel Zeit mit Schuldzuweisungen und Beschwerden verbracht. Es ist uns nie in den Sinn gekommen, 18 Tage auf dem Tahrir-Platz zu verbringen und einfach das, was wir wollen, einzufordern."
Charlotte Bank
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