''Junge Muslime möchten das Land mitgestalten''
"Wo kommst du her? Wie geht es dir in Deutschland? Fühlst du dich eher deutsch oder türkisch?" Das sind Fragen, die Jugendlichen gestellt werden, wenn sie anders aussehen als Deutsche, deren Vorfahren nicht aus anderen Ländern stammen. Gehen wir diesen Jugendlichen damit auf die Nerven?
Naika Foroutan: Zumindest zeigt man ihnen damit, dass sie etwas Fremdes an sich haben. Oft leben diese Jugendlichen aber schon in der zweiten oder dritten Generation in Deutschland, sie sprechen die Sprache fließend, kennen die Alltagscodes in Deutschland. Ihr Heimatland dagegen kennen manche vielleicht nur aus Erzählungen.
Das ist zum Beispiel der Fall bei iranischstämmigen Kindern, deren Eltern Anfang der 1980er Jahre aus politischen Gründen nach Deutschland gekommen sind. Diese Kinder sind in den letzten 30 Jahren nie in ihrem sogenannten Herkunftsland gewesen, weil ihre Eltern als Asylsuchende ihren Pass abgeben mussten und nun nicht mehr in ihr Land zurück können.
Manchen Jugendlichen geht man daher tatsächlich mit diesen Fragen auf die Nerven, weil man ihre Selbstwahrnehmung als Deutsche immer wieder in Frage stellt. Andere haben sich schon längst an diese Fragen gewöhnt und sich dementsprechend in einer ethnisierten Identität eingerichtet.
Wie sieht diese Identität aus?
Foroutan: Diese Jugendlichen haben zumeist die komplette Phase der Identitätsbildung in Deutschland verbracht. In ihren Herkunftsländern kennen sie sich nicht aus, weil sie mit den Alltagscodes nicht vertraut sind. Trotzdem haben sich diese Kinder eine eigene ethnische Identität aufgebaut, wir nennen das eine "invented tradition", also eine erfundene Tradition und die korrespondiert mit dem Bild, das die deutsche Gesellschaft von diesen Jugendlichen hat.
Das heißt, die Jugendlichen versuchen, einen Spagat zu machen? Zwischen der Welt, in der sie heute leben und der, aus der ihre Eltern oder Großeltern stammen?
Foroutan: Diese Jugendlichen empfinden sich nicht als zwischen zwei Welten stehend, sondern sie verstehen die Zugehörigkeit zu zwei Kulturen als Selbstverständlichkeit. Daraus entwickeln sie eine eigene Form von Selbstbewusstsein.
Ein Kollege hat dafür den Begriff "der dritte Stuhl" geprägt. Diese Jugendlichen verbinden die Kultur der Mehrheitsgesellschaft mit der ihrer Herkunftsfamilie. Daraus entsteht ihre Hauptidentität. Ich selbst spreche von hybriden Identitäten, damit ist die Identität von Menschen gemeint, die sich mehreren Kulturräumen zugehörig fühlen.
Solche Begriffe haben sich noch nicht durchgesetzt. Meistens spricht man von Migranten oder von Menschen mit Migrationshintergrund – auch wenn der Begriff umstritten ist.
Er wird auch nicht ganz richtig verwendet. Der Begriff Migrant bezeichnet nur die erste Generation der Einwanderer. Als "Personen mit Migrationshintergrund" gelten solche, die schon in der zweiten oder dritten Generation in Deutschland leben und die deutsche Staatsbürgerschaft haben. Allerdings taucht der Begriff vor allem dann auf, wenn es um Menschen mit einem spezifischen Migrationshintergrund geht, also zum Beispiel einem türkischstämmigen und muslimischen, das wird oft als problematisch klassifiziert.
Verändert sich das allmählich?
Foroutan: Ein wichtiger Impuls kam aus der Politik. Seit 2002 ist Deutschland Einwanderungsland. Das heißt: Heute können Kinder die deutsche Staatsangehörigkeit bekommen, wenn die Eltern in Deutschland leben. Früher war das nur möglich, wenn die Eltern Deutsche waren. Vielleicht gelingt es uns in diesem Prozess auch, Begriffe zu entwickeln, die in den USA schon lange geläufig sind.
Dort spricht man nicht von Menschen mit Migrationshintergrund, sondern es gibt die Bindestrich-Identitäten. Bei uns würde man zum Beispiel von Deutsch-Türken sprechen – doch bei uns hat sich dieser Sprachgebrauch noch nicht durchgesetzt.
Trotzdem bleibt aber die Frage, welchen Raum es für die eigenen Traditionen gibt. Seit den Anschlägen in New York im September 2001 gibt es in vielen europäischen Ländern anti-muslimische Tendenzen. Als zum Beispiel in Köln die Moschee gebaut wurde, waren viele Bewohner dagegen.
Foroutan: Das ist Teil des Problems. Die Gesellschaft muss lernen, damit umzugehen. Wir leben in einem demokratischen Rechtsstaat, da gilt die Religionsfreiheit. Und der Bau einer Moschee ist ein emanzipatorisches Zeichen. Es sagt: Wir gehören dazu und haben auch das Recht, unsere Religion auszuleben. Viele Jahre beteten Menschen in kleinen Moscheen in Hinterhöfen – und das ist ein Zeichen, dass man nicht wirklich angekommen ist.
Der Bau einer Moschee signalisiert aber: Wir leben hier, das ist unser Land, das wir mitgestalten möchten. Dass es dabei zu Reibungen kommt, finde ich ganz normal.
Das heißt, wir sind auf einem guten Weg?
Foroutan: Ich bin optimistisch, dass der Wandel gut gelingt. Problematisch wird es aber, wenn etwas abzudriften droht. In diesen Tagen habe ich mehrere Schreiben von Zusammenschlüssen auf den Tisch bekommen, die die Volksvermischung als Bedrohung sehen und sich für die Ausweisung aller "Fremden" aus Deutschland einsetzen. Von solchen Bewegungen gibt es immer mehr.
Umgekehrt erleben wir Provokationen von salafistischen, fundamentalistisch-muslimischen Bewegungen – wobei diese im Vergleich wesentlich weniger sind. Wenn man sieht, welche Zerfaserungen und Entfremdungen es gibt, dann wissen wir, es liegen noch viele Konflikte vor uns, für die wir Lösungen finden müssen.
Wie kann man da gegensteuern? Ist das die Aufgabe der Politik? Oder der Wissenschaft?
Foroutan: Von allen gemeinsam. Wir brauchen Allianzpartner, die die Visionen von Zugehörigkeit verändern. Die finden sich in der Politik, in der Wissenschaft, in den Medien – aber auch in Sportvereinen und Schulen. Viele Kinder und Jugendliche bekommen Signale, dass sie nicht dazugehören und nicht erwünscht sind.
Wenn diese Vorurteile weg sind, gelingt es uns auch, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. Dass man sagt: Wir haben vor ein paar Jahrzehnten gemeinsam ein komplett zerstörtes Land wieder aufgebaut. Da machen wir jetzt weiter.
Interview: Britta Mersch
© Goethe Institut 2012
Dr. Naika Foroutan arbeitet am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie leitet dort das von der Volkswagen-Stiftung geförderte Forschungsprojekt zu hybriden europäisch-muslimischen Identitätsmodellen (HEYMAT).
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de