Deutsche Marotten aus afghanischer Sicht
Als der afghanische Schriftsteller Taqi Akhlaqi 2016 in Kabul in das Flugzeug nach Deutschland stieg, um sein Stipendium im Heinrich-Böll-Haus in Langenbroich bei Düren anzutreten, hatte er gewisse Vorstellungen und bereits einen beachtlichen deutschen Wortschatz im Gepäck. Im Goethe-Institut hatte er seit 2012 Deutsch gelernt – um Nietzsche im Original lesen zu können. „Also sprach Zarathustra“ war für ihn eine lebensverändernde Lektüre. Während sein bester Freund aus dem Koran rezitierte, sorgte Akhlaqi mit Nietzsche-Zitaten eher für Verwirrung.
Deutschland, dachte er, das Land, in dem jeder Nietzsche liest und zitieren kann. Tja, schön wäre es, aber selbst Goethe hat ja kaum jemand in Deutschland über die flüchtige Schullektüre hinaus gelesen. Akhlaqi, zu dem Zeitpunkt gerade dreißig Jahre alt, versucht, sich nicht allzu sehr irritieren zu lassen. Auch nicht von den deutschen Großstädten, die alle irgendwie gleich aussehen, dem absurden Auswahl-Overkill im Supermarkt (mit wechselnden Fertiggericht-Experimenten nähert er sich dem hiesigen Gaumen an), dem gewöhnungsbedürftigen Waschmittelgeruch seiner Mitmenschen oder dem kafkaesken Labyrinth der Deutschen Bahn.
Stattdessen versucht er vergeblich, in Bölls Arbeitszimmer sitzend, mit seinem Roman voranzukommen. Am Ende schiebt er das Projekt auf und schreibt stattdessen über seinen akuten Kulturschock. Herausgekommen ist dabei das im Sommer erschienene und von Jutta Himmelreich wie üblich vorzüglich ins Deutsche übersetzte Buch „Versteh einer die Deutschen“. Es ist nach der deutsch-persischen Kurzgeschichtensammlung „Aus heiterem Himmel“ bereits seine zweite Publikation in Deutschland – wo er inzwischen in Berlin eine neue Wahlheimat gefunden hat.
Am Ende nämlich, das zeichnete sich bereits nach den vier Monaten im Böll-Haus ab, hatte Akhlaqi das Land lieben gelernt, so sehr er auch nach wie vor über Vieles stolperte. Von den ungemütlichen Toiletten über die gewöhnungsbedürftigen Betten bis zu den ängstlichen Blicken, die ihm Deutsche andauernd zuwerfen, weil sie vor jemandem, der wie ein Muslim aussieht, eine diffuse Angst haben. Oder Vorurteile. Oder all das andere ausgrenzende Zeug, das Deutsche so mögen, warum auch immer.
Das ist die eine Seite. Die andere: Die enorme Unterstützung, die er Geflüchteten gegenüber beobachtete, gerade im Jahr 2016, die Wertschätzung für den einzelnen Menschen – das kannte er in dieser Form nicht. In Afghanistan ist der Individualismus bis heute eher gering ausgeprägt, und auch Privatsphäre ist meist ein Fremdwort, leben doch viele auch größere Familien unter einem Dach, schlafen im selben Zimmer. Die Kehrseite, die Vereinzelung, war hingegen etwas, womit Akhlaqi sich anfangs schwertat – ein Segen, als ein syrischer und ein irakischer Kollege im Böll-Haus einzogen und es, wie es oft der Fall ist, zu einer malerischen Schriftsteller-WG zwischen Feldern, Wäldern und Apfelbäumen machten.
In die Rolle des Afghanistan-Experten gedrängt
Die Monate, mitten im Winter, verbrachte Taqi Akhlaqi allerdings nicht nur in Schreibklausur. Er reiste viel, sah sich Städte an, gab Lesungen und sprach an Schulen mit Jugendlichen. Eine bereichernde Erfahrung, einerseits. Andererseits musste er dort erleben, was so gut wie jeder Autor erfährt, der aus einer Krisenregion nach Deutschland kommt: Ob Publikum oder Moderation oder Presse, alle befragten ihn zur politischen und zur Sicherheitslage in seinem Heimatland. Um Literatur, um Akhlaqis Werk oder seine Gedanken zu deutscher Literatur, ging es oft nur am Rande: „Egal, wie oft ich laut und vernehmlich die Begriffe 'Schriftsteller' oder 'Autor von Kurzgeschichten' ins Spiel brachte, die Fragen meiner Gegenüber kreisten immer aufs Neue um Politik und Sicherheit, wodurch ich mich in die Rolle des Afghanistan-Experten gedrängt sah.“
Wobei das Thema Sicherheit durchaus eine wichtige Rolle für ihn spielte: Die Erfahrung, sich ohne Angst und pausenlose Anspannung bewegen, einfach mal einen relaxten Spaziergang unternehmen zu können, war neu für ihn. Und es brauchte Zeit, sich daran zu gewöhnen. In Kabul, erzählt er, verlässt man nicht das Haus, ohne einen Zettel mit Namen, Blutgruppe und Telefonnummern naher Angehöriger einzustecken in der Hoffnung, dass er in einer Explosion nicht verbrennt.
Aus dem Krankenhaus auf die Barrikaden
Im Iran streiken die Pflegekräfte, um gegen miserable Lebensstandards und belastende Arbeitsbedingungen zu protestieren. Die Verzweiflung treibt viele ins Ausland – manche sogar in den Suizid.
Akhlaqi hat mehrmals Selbstmordattentate erlebt, Freunde von ihm wurden von Terroristen getötet, er sah Leichen auf der Straße. Das ist nur einer, wohl aber der wichtigste Grund, weshalb man ihn für verrückt erklärte, als er nach den vier Monaten in Nordrhein-Westfalen zunächst nach Kabul zurückkehren wollte. Dort waren immerhin auch seine Frau und die beiden Söhne. Es verwundert daher kaum, dass ein Wunsch immer wieder durchscheint: Ein Afghanistan ohne Taliban, ohne Terror, ohne Gewalt und Angst.
Es gelingt Taqi Akhlaqi, diese Themen in „Versteh einer die Deutschen“ zu behandeln, ohne ihnen eine beherrschende Stellung im Buch zu erlauben. Viel lernt man über Afghanistan und noch mehr über den Blick von außen auf den deutschen Alltag samt seinen mitunter befremdlichen Marotten, was das Buch zu einer durchaus so vergnüglichen wie erhellenden Lektüre macht. Diesen Blick von außen bräuchte es öfter in Deutschland, schon deshalb, weil er hilft, die Vorzüge einer freien Demokratie zu schätzen und alles andere nicht immer so bierernst zu nehmen.
Taqi Akhlaqi
„Versteh einer die Deutschen“
Sujet Verlag, Bremen 2024
Aus dem Persischen übersetzt von Jutta Himmelreich
275 Seiten
19,80 Euro (Softcover mit Schutzumschlag)
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