Einst geschätzt, jetzt verfemt
Zur internationalen Verbreitung des politischen Islams haben insbesondere Ägypten und Saudi-Arabien beigetragen. Die Anfänge dieser in der Zwischenkriegszeit am Nil geborenen antikolonialen Bewegung ließen noch nicht ahnen, dass es eines Tages zu einer Totalkonfrontation zwischen ihr und dem Westen kommen würde.
So lehnte einer ihrer Wortführer, der Gründungsvater der ägyptischen Muslimbruderschaft Hassan al-Banna, den Parlamentarismus als Regierungsform nicht kategorisch ab. Erst die gewalttätige Auseinandersetzung zwischen den Muslimbrüdern und ihren an die Macht gekommenen Kontrahenten aus dem Kreis der "Jungen Offiziere", die Al-Bannas Ermordung und später ein Verbot der Bruderschaft unter Präsident Nasser nach sich zog, beschleunigte die Radikalisierung dieser Oppositionsbewegung.
Ihr damaliger Chefideologe Sayyid Qutb schrieb dann im ägyptischen Gefängnis, ehe er 1966 hingerichtet wurde, mehrere Abhandlungen, die bald zu den wichtigsten Traktaten des militanten Islamismus werden sollten.
Qutb's Vermächtnis
Nicht alles war an Qutbs revolutionären Schriften neu. Einige ihrer Leitgedanken waren inspiriert von dem indisch-pakistanischen Schriftgelehrten Sayyid Abul Ala al-Maududi (1903-1979). Dessen Entwurf für ein islamisches Herrschaftssystem, basierend auf einer gottgegebenen Souveränität, ließ noch Spuren demokratischen Denkens erkennen. Qutb brach nicht nur radikal mit diesem Konzept. Er stempelte auch alle Muslime, die nicht für die Einführung und vollständige Anwendung der Scharia waren, zu "Unwissenden" – sie wurden dann zu vogelfreien "Apostaten" von Qutbs noch weiter radikalisierten Anhängern erklärt, die den Weg des Terrorismus einschlugen.
Diese Art Eiferer wollte man in Saudi-Arabien, dessen wahhabitische Staatsreligion sich in mancherlei Hinsicht mit der ägyptischen Schule des politischen Islams überschneidet, zwar nicht haben. Aber von der ägyptischen Regierung verfolgte gemäßigtere Muslimbrüder waren dort lange willkommen und konnten ihre Ideologie, solange sie die Herrschaft des Hauses Saud nicht in Frage stellten, weiterverbreiten: An Usama Bin Ladens Hinwendung zum Extremismus hatten die Vorlesungen von Muhammad Qutb (1919-2014), dem Bruder von Sayyid Qutb, die der spätere Al-Qaida-Führer in jungen Jahren in Jiddah besuchte, entscheidenden Anteil.
Obgleich sich die ägyptischen Muslimbrüder während des Arabischen Frühlings von Sayyid Qutbs Erbe distanzierten und sich dann als Regierende weitgehend an die demokratischen Spielregeln hielten, wurden sie von den Kräften des alten Militärregimes – unter der neuen Führung des Generals und späteren Präsidenten Al-Sisi – entmachtet, zu Terroristen erklärt und erbarmungslos verfolgt.
Literarische Säuberung
Die Führung in Kairo begnügt sich allerdings nicht mit der Zerschlagung der Muslimbruderschaft als Organisation. Die Regierung will seit Kurzem auch das umfangreiche Schrifttum der Ideologen des politischen Islams vom Erdboden verschwinden lassen. Schon im Sommer wurde im Land damit begonnen, systematisch die Schriften Maududis, Al-Bannas, der Brüder Qutb und auch von Vertretern des Salafismus aus den Moscheebüchereien zu entfernen.
Noch ehe bekannt wurde, dass die Säuberungsaktion auch auf die Schulbibliotheken ausgedehnt wird, ging man in einer Schule in Gizeh mit besonderem Eifer ans Werk. Gemeinsam mit Erziehungsbeamten sortierten die Lehrer dort nicht nur gleich stapelweise Bücher aus, sondern verbrannten sie auch auf dem Schulhof und ließen sich dabei fotografieren. Die Bücherverbrennung löste in den arabischen Medien eine Welle des Entsetzens aus. Und die Regierung sah sich zu der Erklärung veranlasst, dass die Verantwortlichen verwarnt worden seien und sich künftig so etwas nicht wiederholen werde.
Die konfiszierten Bücher werden angeblich in mehreren Ministerien sicher verwahrt. Dass dies auch tatsächlich auf alle Exemplare zutrifft, ist angesichts ihrer über die Jahrzehnte kontinuierlich gewachsenen Zahl zu bezweifeln – sie dürfte in die Millionen gehen.
Dem ägyptischen Beispiel folgend hat Anfang Dezember auch Saudi-Arabien damit begonnen, die dort bis vor noch nicht allzu langer Zeit geschätzten Werke der islamistischen Vordenker aus dem Verkehr zu ziehen. Die entsprechende an alle Schulen im Land ergangene Anweisung des Erziehungsministeriums, die schnell in den sozialen Medien die Runde machte, enthält eine Liste mit knapp 80 verbotenen Titeln. Ganze 20 davon stammen aus der Feder Maududis - darunter mehrere, die von einem halbstaatlichen saudischen Verlag in Jiddah veröffentlicht wurden. Dieser druckte auch Sayyid Qutbs antijüdische Hetzschrift "Unser Kampf mit den Juden", die neben weiteren 14 seiner Werke auf dem Index steht. Dass sich unter diesen auch Qutbs in der islamischen Welt weit verbreitete Koranauslegung befindet, stößt dort auf Verwunderung.
Für spöttische Reaktionen sorgte die Indizierung des Buches "Der Dschihad auf dem Weg Gottes", das Stellungnahmen von Maududi, Hassan al-Banna und Sayyid Qutb zum islamischen heiligen Krieg versammelt: Der Band sei, ruft man in Erinnerung, einst vom saudischen Erziehungsministerium als Schulbuch herausgegeben worden.
Joseph Croitoru
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