Kein Konflikt zwischen Islam und Demokratie
Hoheit, die Welt ist schockiert von Terrorangriffen, die von Menschen verübt werden, die behaupten, für den Islam zu kämpfen. Sie, als ein herausragendes muslimisches Oberhaupt, nennen den Islam eine Religion des Friedens. Heißt das nicht, dass der Islam zwei Gesichter hat?
Prinz Karim Aga Khan IV: Nein, das denke ich nicht. Zum einen muss man daran denken, dass dies nur eine sehr, sehr kleine Minderheit der muslimischen Bevölkerung der Welt darstellt. Zum anderen sind sie im Wesentlichen von politischen und nicht von religiösen Motiven getrieben. Es wäre völlig falsch, dies als repräsentativ für den Islam zu betrachten. Die westliche Welt muss genau hinsehen, welche Kräfte da im Spiel sind, damit man zwischen dem Glauben und jenen Dingen unterscheiden kann, die überhaupt nichts mit dem Glauben zu tun haben. Wir Muslime könnten ja auch die gleichen Fragen stellen: zum Beispiel zu dem, was in Nordirland passiert. Wenn ich als Muslim zu Ihnen käme und sagen würde: "Was in Nordirland passiert ist, spiegelt den katholischen und den protestantischen Glauben wider", dann würden Sie mich ansehen und sagen: "Sie sind ungebildet."
In vielen westlichen Ländern, auch in Deutschland, sind immer mehr Menschen der Auffassung, dass Islam und Demokratie nicht vereinbar sind. Wenn das stimmt, dann wäre gegenseitiges Verstehen und effektive Zusammenarbeit zwischen Muslimen und dem Westen praktisch unmöglich.
Aga Khan: Stimmt, aber ich sehe keinen Konflikt zwischen Islam und Demokratie. Dabei spielten in der Geschichte zwei Konzepte eine wichtige Rolle: Das erste war die Beratung und das zweite die Übertragung religiöser und weltlicher Autorität durch Vererbung. Außerdem wurde gefragt: Welchen Zweck haben diese Beratungen? Nämlich sicherzustellen, dass die Fähigsten die Gemeinschaft führen. Ich meine, dass Demokratie auf diesen beiden Konzepten fußt: Sie beruht auf dem Konzept der Beratung und auf dem Konzept der Abstimmung, mit dem Ziel, herauszufinden, welche Menschen am besten geeignet sind, die Gemeinschaft zu führen. Ich sehe da also überhaupt keinen Konflikt, wenn ich mir die ursprüngliche Form der muslimischen Gemeinschaft vor Augen führe.
Toleranz und Pluralismus stehen ganz oben auf Ihrer Agenda zur Verbesserung der Lage der Menschheit. Ist das so, weil Ihre eigenen Anhänger, die Ismaeliten, als Minderheit auch diskriminiert werden? Manchmal werden sie von anderen Muslimen sogar als Ketzer bezeichnet.
Aga Khan: Zunächst würde ich sagen, dass es in jedem Glauben Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung des Glaubens gibt. Ich denke aber nicht, dass die Ismaeliten heutzutage noch diskriminiert werden. Im Gegenteil, wir bauen Brücken zu Vertretern anderer Richtungen des Islam. Denn im Islam ist der Begriff des Pluralismus fest verankert. Es gibt ja auch eine ganze Reihe verschiedener Interpretationen. Der Unterschied zwischen den Interpretationen ist im Islam also kein Problem. Ich würde sogar noch weiter gehen und behaupten, dass der Islam ein sehr umfassender Glaube ist. Es gibt im Koran eine sehr bekannte Textstelle: Allah sagt "Ich habe Euch" - und damit meint er die ganze Menschheit - "aus einer Seele geschaffen."
Seit Ende 2001 bemüht sich der Westen um einen Dialog mit der muslimischen Welt. Aber immer mehr Menschen sind frustriert, weil von muslimischer Seite keine wirkliche Antwort zu kommen scheint. Sie warten auf Stimmen gemäßigter Muslime, die sich laut und deutlich gegen Terrorismus im Namen des Islam aussprechen. Warum kann man solche Stimmen nicht hören?
Aga Khan: Ich glaube, diese Stimmen sind jetzt immer öfter zu hören. Wir müssen bedenken, dass es Kräfte gibt, die innerhalb der islamischen Welt keinen freien Meinungsaustausch fördern, und insbesondere nicht über den Glauben.
Welche Hoffnung gibt es, den Terrorismus für immer zu überwinden?
Aga Khan: Zunächst würde ich sagen: Lasst uns die Ursachen des Terrors beseitigen. Allgemein ist das politische Frustration und keine Frage des Glaubens. Die Lage im Nahen Osten ist nicht aus dem islamischen Glauben entstanden. Die Lage in Kaschmir ist nicht aus dem islamischen Glauben entstanden. Die Lage in Afghanistan ist nicht aus dem islamischen Glauben entstanden. Wir müssen also den Kern des Problems erkennen, und der ist politischer Natur. Und wenn wir die eigentliche Ursache kennen, die die Menschen zur Verzweiflung treibt, dann werden wir es packen.
Interview: Günter Knabe
© DEUTSCHE WELLE/DW-WORLD.DE 2004