Chance auf einen Wandel
Wie bewerten sie das Vorziehen der Machtübergabe im Irak? Ist dies ein Eingeständnis von Schwäche und Angst vor dem Terror?
Henner Fürtig: Nein. Als Zeichen von Schwäche würde ich das nicht bezeichnen, aber als Zeichen von Angst. Und die Angst ist ja auch berechtigt, wenn ich sehe, was in den letzten Tagen im Irak passiert ist. Es war ein taktischer Schachzug, die Machtübergabe vor zu verlegen, um dem 30. Juni seinen Symbolgehalt zu nehmen und damit mögliche Planungen der Terroristen zu stören. An der Substanz hat sich nichts geändert.
Ist der heutige Tag wirklich das Ende der Besatzung?
Fürtig: Nein, der Besatzung nicht. Die Besatzung ist ja jetzt sogar nach der Resolution 1546 mit allerhöchsten UNO-Weihen versehen und wird fortgesetzt. Es ist also, wie wir alle wissen, eine eingeschränkte Souveränität. Diese bezieht sich auf innenpolitische Alltagsentscheidungen im Irak, wo die Souveränität jetzt gilt, allerdings nicht auf das Problem der inneren Sicherheit und das der Außenverteidigung.
Was wird sich mit der förmlichen Übertragung der Souveränität auf die Iraker ändern?
Fürtig: Ändern kann sich die innere Stimmungslage. Wenn bei den Menschen auf der Straße der Eindruck entsteht, dass Entscheidungen, die sie unmittelbar angehen, von den eigenen Landsleuten getroffen werden und die Ministerien nicht reine Staffage für Entscheidungen sind, die in der C.P.A. (amerikanisch geführte Zivile Übergangsverwaltung, Anm. der Redaktion) fallen, dann kann sich mittelfristig ein Stimmungswechsel vollziehen. Das ist für mich die einzige Änderung, die in dieser Souveränitätsübergabe liegt, zumindest die Chance auf einen Wandel. Das bedeutet aber nicht, dass der Terror in den nächsten Tagen und Wochen nachlassen wird.
Was muss und was kann die Übergangsregierung tun?
Fürtig: Die Übergangsregierung kann im Prinzip kaum etwas anderes tun, als ihre Arbeit auf den Wahltermin am 2. Januar 2005 auszurichten, wie es Ministerpräsident Ijad Allawi gerade getan hat. Zuvor gab es ja Gerüchte über eine Verschiebung. Ich glaube, das ist ein wesentlich wichtigerer Tag, als diese Übergabe der, wie wir wissen, eingeschränkten Souveränität. Es muss den Irakern glaubhaft versichert werden, dass sie an diesem Tag tatsächlich eine Stimme haben und dass diese Stimme gehört wird und dass diese Stimme über die Zukunft des Landes entscheidet.
Und dass es sicht lohnt, Rivalitäten und Ablehnung gegenüber der Interimsregierung bis zu diesem Stichtag zurück zu stellen. Dann hat sie, glaube ich, ihr Hauptziel erreicht. Mehr kann und darf sie gar nicht erreichen. Es gibt ja viele Kräfte im Lande, vor allem die Schiitenführer, die sagen, die Interimsregierung hat nur diese alleinige Aufgabe. Alles andere muss dann der Verantwortung einer gewählten Regierung überlassen werden.
Eine der dringlichsten Aufgaben der Übergangsregierung ist es, die Gewalt einzudämmen. Was halten Sie von der Idee Allawis, die bewaffneten Milizen der verschiedenen politischen und religiösen Gruppen in den Kampf gegen den Terror einzubinden?
Fürtig: Das ist ein Kind der Not. So etwas wie eine zentral geführte Sicherheitskraft existiert ja nicht. Die Armee ist immer noch rudimentär, die Zahl der gegenwärtig unter Waffen stehenden, regulären Soldaten schwankt zwischen 20.000 und 130.000, je nach Interesse desjenigen, der sie äußert. Es gibt Polizeikräfte, aber die sind noch in einem sehr frühen Stadium der Ausbildung. Allawi hat kaum eine andere Wahl, als auf bestehende Milizen zurück zu greifen. Das sind vor allem diejenigen, deren Führer auch irgendwie in den Interimsprozess einbezogen worden sind, d.h. die kurdischen Peschmergas, die Badr-Brigaden des Obersten Rates (SCIRI) und andere Parteimilizen. Diese Personen sind, wie gesagt, durch ihre Führer in den Interimsprozess eingebunden und werden sich vermutlich nicht gegen Allawi wenden.
Entgegen den Behauptungen der USA halten manche Beobachter den Einfluss ausländischer Attentäter wie Abu Mussad el Sarkawi für gering. Sind die Anschläge innerirakischen Ursprungs?
Fürtig: Das ist wahrscheinlich ein Sowohl-als-auch. Fakt ist, ohne die Unterstützung von Teilen der irakischen Bevölkerung, vor allen in den Städten, würden Terroristen im luftleeren Raum agieren, hätten nicht den Erfolg, den sie haben. Aber es ist aus meiner Sicht ziemlich eindeutig, dass Teile der Rädelsführer und die wichtigsten Organisatoren in der Tat wohl aus dem Ausland kommen, und hier aus der internationalen Dschihad-Bewegung. Ich halte es aber für falsch, alle diese Anschläge sofort irgendwie mit El Kaida in Verbindung zu bringen.
Glauben Sie, dass der Fahrplan zur Demokratisierung eingehalten werden kann?
Fürtig: Das ist natürlich die 10.000-Dollar-Frage. Also, ich halte es weiterhin für nicht ausgeschlossen, dass die Entwicklung im Irak immer noch im totalen Desaster endet. Es ist immer noch möglich, dass ein verheerender Bürgerkrieg ausbricht, mit dem Endergebnis einer kompletten Auflösung des Staates Irak.
Auf der anderen Seite halte ich es für genauso gut möglich, dass es am 2. Januar 2005, plusminus wenige Tage, zu Wahlen kommt. Trotz allem Skeptizismus ist es Ende Februar 2004 zur Verabschiedung einer Übergangsverfassung für den Irak gekommen. Es ist auch zur Übergabe dieser Teilsouveränität gekommen. Nun zwar nicht am 30. aber dann eben am 28. Juni. Der Schritt alleine zählt. Wenn man also allein diese Zahlen für sich nimmt, dann könnte man auch sagen, es hat Bewegung gegeben. Davon ausgehend, könnte man Hochrechnungen anstellen. Dann kann man auch den 2. Januar 2005 für möglich halten.
Interview Andreas Leixnering
© DEUTSCHE WELLE/DW-WORLD.DE 2004
Dr. Henner Fürtig promovierte 1983 zur iranischen Revolution und habilitierte 1988 zum irakisch-iranischen Krieg als Fallstudie über militärische Konflikte zwischen Entwicklungsländern. Mehrjährige Aufenthalte in Iran und Ägypten. Bis 1993 Oberassistent am Orientalischen Institut der Universität Leipzig, dann Mitarbeiter, ab 1996 Leiter eines Forschungsteams am Zentrum Moderner Orient in Berlin. Seit 2002 am Deutschen Orient-Institut in Hamburg.
Mehr über Henner Fürtig finden Sie auf der Website des Deutschen Orient-Instituts Hamburg