Das lange Duell
Diese Form der Kontinuität findet man selten. Es gibt einen antiken, einen mittelalterlichen und einen modernen Iran. Obwohl sich die iranische Geschichte über mehr als 5.000 Jahre erstreckt, leitet die heute dort lebende Gesellschaft ihre Kultur von den Anfängen her. Auf eine Art ist der Iran seit den Ursprüngen der Zivilisation immer derselbe geblieben.
Der Gedanke mag zwar dogmatische Anti-Essentialisten auf die Palme bringen. Aber der bewährteste zeitgenössische iranische Historiker und Soziologe, Homa Katouzian, schafft es, die Idee schon im kurzen Titel seines 2010 erschienenen englischsprachigen Buchs auf den Punkt zu bringen: "The Persians: ancient, medieval and modern Iran". Mit anderen Worten: irgendwie sind die Perser über die Jahrtausende immer Perser geblieben.
Das ist umso erstaunlicher, als das Land mehrere gewaltige Invasionen und rücksichtslose Übergriffe fremder Mächte über sich hat ergehen lassen müssen. Alexanders Griechen, die gerade muslimisch gewordenen Araber, die türkischen Seldschuken, die Mongolen unter Tamerlan (Teymur Lang), der britische und der russische Imperialismus, um die historisch wichtigsten zu nennen.
Jeder Übergriff hat seine Spuren hinterlassen, Land und Gesellschaft verändert. Aber so epochemachend die Einmärsche auch waren, es gab immer eine Gegenbewegung, eine Selbstbehauptung der Landesbewohner. Die bekannteste und historisch wohl bedeutsamste ist der Erhalt der persischen Sprache nach dem arabisch-islamischen Eroberungsfeldzug. Die neue herrschende Schicht des Landes wurde zwar muslimisch und führte für den religiösen Ritus das Arabisch des Koran ein, aber die Sprache des Landes blieb persisch, geschrieben nun mit arabischen Buchstaben. Der Schah-Nameh, das Buch der Könige, die Legendensammlung von Ferdousi, steht nicht nur für diese kulturelle Selbstbehauptung, er hat sie überhaupt erst vollbracht.
Spirale der zyklischen Eskalation
Was ist heute anders? Die Konfrontation mit den Vereinigten Staaten von Amerika, die seit 70 Jahren dauert und seit dem mutwilligen Sturz des Ministerpräsidenten Mohammad Mosaddegh durch die CIA im August 1953 eine Spirale der zyklischen Eskalation durchläuft, folgt einem neuen Muster und zeitigt Folgen einer neuen Kategorie.
[embed:render:embedded:node:16895]Zu einem offenen amerikanischen Einmarsch ist es bislang nicht gekommen. 1953 schickte Washington Spione, 1980 schickte man, nach dem erfolgreichen Volksaufstand gegen den pro-amerikanischen Schah, Saddam Husein vor und im Sommer 2003 schreckte George W. Bush vor einem Durchmarsch von Bagdad nach Teheran zurück. Er hätte ein durchgehend amerikanisch besetztes Gebiet vom Irak bis Afghanistan geschaffen. Stattdessen begannen die USA einen Wirtschaftskrieg, eine Blockade, die Iran vom normalen Außenhandel abschneidet. Auf dem Weg zur Arbeit starben immer mal wieder iranische Nuklearforscher, eine amerikanisch-israelische Schadsoftware ließ hunderte Zentrifugen zur Urananreicherung buchstäblich durchdrehen, und Anfang Januar starb Qassem Soleimani.
Wie verhält sich der Iran in dieser Konfrontation? Von einem kollektiven, mehr oder weniger einheitlichen Verhalten kann man nur in Bezug auf die Erinnerung an Mosaddegh, die Revolution von 1979 und die Bereitschaft zum Krieg gegen die kurz danach im Südwesten einmarschierten irakischen Truppen sprechen. Bald entfremdeten sich dann große Teile der Gesellschaft von der neuen, islamisch-theologisch legitimierten Staatsführung. Viele Menschen fühlten sich von der nun herrschenden schiitischen Geistlichkeit nicht repräsentiert, vor allem nicht im kulturellen Sinn.
Die Mullahs und Ayatollahs gehörten zwar seit Jahrhunderten zur iranischen Kultur und ihre gesellschaftliche Rolle war weithin akzeptiert, aber dass sie nun politisch herrschen sollten, und das auch noch uneingeschränkt, das erschien einer Mehrheit zunehmend absurd, weil unzeitgemäß.
Dass die Zugehörigkeit zu einer sehr alten Kultur nicht Fortschrittsfeindlichkeit bedeutet, ist eine Grundüberzeugung, die viele Iraner teilen und tief im Bewusstsein mit sich herumtragen. Ähnliches können nur wenige Nationen auf dieser Erde von sich behaupten. Diese Grundüberzeugung auch zu leben, erweist sich in der Islamischen Republik als unmöglich.
Der oberste Rechtsgelehrte, Revolutionsführer Ali Khamenei, hat am 17. Januar gepredigt, dass die Nation nun "Tage Gottes" durchmache. In diesen "Kampftagen Allahs", wie man den koranischen Begriff wohl verständlicher und sinngemäßer übersetzt, bleibe den Iranern nichts übrig, als zusammenzustehen gegen den amerikanischen Aggressor. Ohne Vorbehalte nimmt sich nur eine Minderheit der Bevölkerung, die wiederum weitgehend deckungsgleich mit den vom Regime sozial Versorgten ist, diese Aufforderung Khameneis zu Herzen.
Die Mehrheit muss ansehen, wie die Selbstbehauptung, die auch ihr wichtig ist, zumal gegen Donald Trump, seine Funktionäre und Generäle, von Führungspersonen betrieben wird, die sich als Versager erwiesen und ihre Legitimität verspielt haben.
In doppelter Geiselhaft
Eine zügig verarmende Bevölkerung von rund 80 Millionen Menschen sitzt in doppelter Geiselhaft. Sowohl die eigene Führung mit ihrem von Todesbereitschaft triefenden Diskurs als auch die Neoimperialisten in Washington haben sie in die Zwickmühle genommen. Derweil verschlechtern sich die klimatischen Verhältnisse im Land und erfordern eigentlich eine ganz andere Art von Resilienz. Hitzewellen, Sandstürme und verheerende Überschwemmungen häufen sich und nehmen an Intensität zu. Die Geographie meldet sich mit Gewalt zurück und erinnert daran, dass keine Kultur sich von ihren geographischen Voraussetzungen unabhängig machen kann.
Immer mehr Iraner reagieren auf die Konfrontation mit der physischen Distanzierung. Sie wandern aus, fliehen, unter konsular- und migrationsrechtlich sich verschärfenden Bedingungen. Ein steter Strom ins Exil begann schon in den Tagen des Schah. Aber er ist zu einem regelrechten Exodus vor allem der akademischen Schichten angewachsen.
Der fahrlässige Abschuss des Passagierflugzeugs am 8. Januar durch die "Elite"-Truppe der Revolutionsgarden war daher nicht nur tödlich für die 176 Menschen an Bord und niederschmetternd für deren Verwandte und Freunde. Er hat auch eine deprimierende Symbolkraft. Denn die meisten Passagiere waren Iraner, die den Weg ins Exil gewählt hatten, oder solche, die ihre Verwandten im Ausland besuchen wollten. Das Regime tötet diejenigen, die sich seiner Autorität entziehen wollen. So wird es von vielen empfunden.
Welchen kulturellen Bezug werden die vielen Iraner, die sich zwischen Wien und Vancouver, Stockholm und Rom, Melbourne und Tokio niedergelassen haben, in den kommenden Jahren - man muss wohl eher fragen: in den kommenden Generationen - zu ihrer Heimat haben? Werden sie überhaupt einen bewahren? Es ist, als ob sich eine Bruchstelle abzeichnete, die irgendwann reißen könnte, die jedenfalls nicht leicht zu heilen sein wird.
Iran - "Global Capitalism's last Frontier"
Keinen Glauben möchte man den Versprechungen schenken, die täglich von den persischsprachigen Sendern in Großbritannien und Amerika verbreitet werden. Seit der Machtübernahme durch Trump haben diese Sender, einschließlich Voice of America und BBC Farsi, Reste von Seriosität abgestreift und sind zu reinen Propagandakanälen herabgesunken, die den nahen Sturz des Regimes in Teheran predigen, das dann natürlich nahtlos von einer freiheitlichen und den Rechtsstaat hochachtenden Demokratie abgelöst wird. Diese westlichen Informationsquellen sind nichts als die unverdauliche Kehrseite der iranischen Staatsmedien.
Kein Zweifel kann daran bestehen, dass die US-amerikanische Regierung diesen Sturz will. Seitdem es in Myanmar Investitionsmöglichkeiten für globale Unternehmen gibt, seitdem die an Rohstoffen und Agrarflächen reichen Staaten Brasilien und Äthiopien von evangelikalen Präsidenten regiert werden - der äthiopische sogar ausgezeichnet mit dem Friedensnobelpreis - ist Persien so etwas wie "global capitalism's last frontier", günstig gelegen auf der neuen chinesischen Seidenstraße.
Als würde man den Wertschöpfungsmöglichkeiten im virtuellen Expansionsraum von Big Data nicht ganz trauen. Der mit den fossilen Energien zu erzielende Mehrwert hat sich in der Vergangenheit als solide und nachhaltig erwiesen. Als wolle man noch einmal auf das Altbewährte setzen.
Das Duell, das sich doch unter den Bedingungen der schnellen Moderne und der nicht weniger hastigen Postmoderne abspielt, dauert länger als alle Übergriffe und Eroberungszüge in den alten Zeiten. Auf ein Happy End können nur Naive hoffen. Um wenigstens ein ganz bitteres Ende abzuwenden, mögen hier vorsichtshalber die Prinzipien des klassischen iranischen Films regieren: ein offener, etwas unklarer Ausgang.
Stefan Buchen
© Qantara.de 2020
Der Autor arbeitet als Fernsehjournalist für das ARD-Politikmagazin Panorama.