Schattenboxen zwischen Laizismus und Islam

Das politische Klima der vergangenen Jahre hat es den religiös-konservativen Eliten in der Türkei ermöglicht, neue öffentliche Räume zu erschließen und ihren gesellschaftspolitischen Einfluss zu erweitern.

Von Ömer Erzeren

Jüngst berichteten türkische Zeitungen über einen Konflikt, der sich in einem Fernbus abgespielt hatte. Einige der Fahrgäste verlangten von dem Busfahrer, an einer Moschee anzuhalten, damit sie ihr Gebet verrichten könnten. Andere Fahrgäste protestierten.

Schließlich nahm der Sprecher des Verbandes der Busunternehmer Stellung zu dem Vorfall – mit dem Hinweis auf Verordnungen, dass Gebetspausen bei Langstrecken nicht vorgesehen seien.

Wein im Risotto

Auch ein anderes Ereignis beschäftigte tagelang die türkische Presse: Vor den Wahlen hatte die Regierung Tayyip Erdogans für eine Übergangszeit Osman Günes als Innenminister berufen. Der speiste Risotto in einem Luxusrestaurant im ägäischen Mugla zusammen mit dem Gouverneur der Provinz.

Als der Innenminister den Koch nach dem Rezept befragte und erfuhr, dass auch Wein bei der Zubereitung verwendet werde, kam es zum Eklat. Der fromme Innenminister beschimpfte den Koch, der Gouverneur nahm den Koch in Schutz und wurde schließlich abberufen.

Und auch die Berichterstattung um das Kopftuchmodell der Präsidentengattin Hayrinnüsa Gül will in der Türkei nicht enden. Die Frage, welcher Modeschöpfer sie berät, ist ein Dauerbrenner in den Medien.

Thema Islam in den Schlagzeilen

In der öffentlichen Debatte spielen der Islam und religiöse Praktiken zunehmend eine wichtige Rolle. Im Frühjahr dieses Jahres kam es zur politischen Manifestation. Hunderttausende gingen in den Großstädten auf die Straße: Die Islamisierung der Türkei schreite unter der AKP-Regierung voran und der Laizismus sei in Gefahr.

Mit dem überwältigenden Wahlsieg der AKP mussten die Träger der Demonstrationen eine schwere Schlappe einstecken. Auch wenn der Inhalt beider Begriffe oft im Unklaren blieb, waren Laizismus und Islamisierung in den vergangen Jahren der AKP-Regierung Schlüsselbegriffe in der politischen Auseinandersetzung.

Sowohl Programmatik, als auch die Praxis der AKP lassen unschwer den Schluss zu, dass es der Partei nicht um die Errichtung eines religiösen Gottesstaates und um die Einführung des islamischen Rechtes, der Scharia, geht.

Doch die AKP als politische Partei, die mittlerweile die türkische Gesellschaft durchdrungen hat (seit 1994 stellt die Partei die Bürgermeister von Großstädten wie Istanbul und Ankara, seit 2002 die Parlamentsmehrheit und Regierung und nun - mit Abdullah Gül als neuem Staatspräsidenten - hat sie aktiven Anteil daran, konservative und religiöse Werte zu verbreiten.

Die Führungsriege der AKP ist bis in die 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts in islamistischen Parteien politisch groß geworden. Ein religiös-reaktionäres Weltbild war ihnen gemein, bevor die AKP als Reformpartei entstand.

Parteigänger des Islamismus im Aufwind

Es war auch in den vergangenen Jahren der AKP-Regierung auffällig, wie viele Spitzenbeamte ernannt wurden, die in den Predigerschulen ihren Abschluss gemacht hatten. Parteigänger des politischen Islam hatten es in der öffentlichen Verwaltung leicht wie nie zuvor. Unter der AKP-Regierung wurden die Bestimmungen für die Betreibung von Koran-Kursen erleichtert. Rund eine Million Schüler besuchen heute – zumeist in den Sommerferien – Koran-Kurse.

Erfolgreichen Schülern werden Geschenke, wie Gold, Fahrräder und CD-Player versprochen. Die Werbekampagnen werden durch Unternehmen, die der AKP nahe stehen, finanziert.

Dass ein stellvertretender Gouverneur anlässlich der Geburtstages des Propheten Mohammed davon spricht, dass "die Welt einen Führer wie den Propheten braucht" oder dass religiöse Schriften, die die Evolutionstheorie verdammen, in Schulen kursieren, wäre noch vor einigen Jahren undenkbar gewesen.

Doch die Verbreitung konservativ-religiöser Werte hat nicht ursächlich etwas mit der AKP zu tun. Seit dem Ende des Einparteiensystems der Kemalisten im Jahr 1950 haben konservative Regierungen stets den Islam als politisches Mobilisierungsmoment eingesetzt. Der Gebetsruf, der einst auf Türkisch erklang, wurde wieder Arabisch.

Mit Suren gegen kurdische Separatisten

Auf die Unterstützung religiöser Sekten und Gemeinschaften haben alle rechten Regierungen in den vergangenen 60 Jahren gesetzt. Mit Koran-Schulen ging man auch vor einem halben Jahrhundert auf Stimmenfang. Auch die Militärs haben den Islam nach dem Putsch 1980 im Kampf gegen Linke und die kurdische Bewegung als ideologischen Kitt benutzt.

Unter der Militärdiktatur wurde Religion als Pflichtfach an den Schulen eingeführt, und gegen die "Sünde des kurdischen Sezessionismus" ließen die Militärs Suren des Propheten verteilen.

Mit der AKP hat allerdings etwas Neues öffentlich Einzug gefeiert: Lebensalltag und Lebenspraxis, die religiös motiviert sind. Ein besonderes Kopftuchmodell, entstanden im Zuge der Auseinandersetzung um Studentinnen, denen mit Kopftuch der Zugang zur Universität verweigert wurde, entwickelte sich zu einem Symbol politischer Zugehörigkeit.

Neue Räume für die religiös-konservative Elite

Die neue religiös-konservative Elite schaffte sich neue Räume – Hotels, die Geschlechtertrennung in den Schwimmbädern zur Pflicht erheben, ganze Quartiere, in denen Alkoholausschank tabu ist und wo der Gang zur Koranschule zur gesellschaftlichen Norm erhoben wird.

Im Zuge des neoliberalen Wirtschaftsmodells, für das die AKP eintritt, kam eine höchst bedenkliche Form der Sozialpolitik hinzu. Bei der Vergabe öffentlicher Ausschreibungen oder Baugenehmigungen ist es gang und gäbe, dass die AKP hohe Spendenbeträge an private Vereine zur Bedingung macht.

Private religiöse Hilfsorganisationen, deren Finanzierungspraktiken dubios sind, ersetzen mittlerweile die staatliche Sozialpolitik und bringen mit religiösen Inhalten Hilfe für Millionen sozial Bedürftige.

Vorprogrammierte Konflikte – die Rolle der Frau

Es wird jedoch die Rolle der Frau sein, die die AKP vor umfangreiche Probleme stellen wird. Die Partei hat im großen Maßstab Frauen mobilisiert und für ihre Parteiarbeit eingesetzt, während die Entscheidungen an der Spitze der Partei von Männern getroffen wurden.

Die AKP will, dass Mädchen zur Schule gehen, Auto fahren und sich an den Universitäten einschreiben. Die Rolle, die den Frauen allerdings zugeschrieben wird, ist – gemäß des konservativ-religiösen Weltbildes – die der guten Ehefrau und Mutter.

Staatspräsident Abdullah Gül heiratete seine Frau, als sie 15 Jahre alt war. Nach heutigem Recht wäre dies gar nicht möglich. Die Töchter der AKP-Führungspolitiker studieren zwar brav, doch sie heiraten im jungen Alter und gehen keiner Arbeit nach. Die Erwerbsquote von Frauen ist mit 28 Prozent eine der niedrigsten weltweit.

Im "Global Gender Gap Index" des "World Economic Forum" rangiert die Türkei nach den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain, Kamerun und Burkina Faso an 105. Stelle.

Sollte im Zuge des wirtschaftlichen Booms die Frauenerwerbsquote steigen, ist abzusehen, dass sie zu einem wichtigen materiellen Faktor beim Schattenboxen zwischen Laizismus und Islam wird.

Ömer Erzeren

© Qantara.de 2007

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