Kulturkampf ums Grundgesetz
Es ist nicht lange her, da tobte schon einmal ein Kulturkampf. Ende der Sechziger, also vor knapp vier Jahrzehnten, begehrte die junge Generation gegen die verstaubten Gesellschafts- und Moralvorstellungen der Älteren auf.
Die Emanzipationsbewegung erhob das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung und auf Abtreibung sowie die Gleichberechtigung der Homosexuellen zum Programm, Demos und Wertedebatten bewegten die Gesellschaft und veränderten sie.
Noch bis in die Siebzigerjahre, bevor die sozialliberale Koalition zum großen Reformwurf ausholte, war der Mann Familienoberhaupt - mit allen rechtlichen Konsequenzen und zum Nachteil der Frauen. Geschiedene Frauen galten in manchen Landstrichen als verdächtig, interkonfessionelle Ehen als untragbar.
Niemandem wäre damals in den Sinn gekommen, hinter diesen Zuständen den langen Arm der Scharia zu vermuten. Die Muslime waren zwar schon im Land, aber waren praktisch unsichtbar - als "Nutztiere" des deutschen Wirtschaftswunders.
Populistisch aufgeladener Kampf
Angeblich tobt jetzt wieder ein Kulturkampf. Aber zwischen wem eigentlich? Zwischen Deutschen und Muslimen? Mitnichten. Es ist ein Kampf der Ewiggestrigen, die genau dieser mit ethnischen und religiösen Attributen aufgeladene Kampf und die propagandistisch-populistische Art und Weise, wie er geführt wird, mehr eint als trennt.
Sie führen diesen Kampf nicht gegeneinander, sondern gemeinsam - zum Schaden der offenen Gesellschaft. Es ist ihnen gelungen, binnen wenigen Jahren einen regressiven, ja geradezu infantilen Kulturbegriff einzuführen und zu zementieren, dessen kulturalistische Ideologie jede Art von Pluralismus und somit auch das Fundament der freien Gesellschaft gefährdet.
Fundamentalist wird man nicht durch einen bestimmten Glauben, sondern durch eine bestimmte Art zu denken (oder auch nicht zu denken).
Die Fundamentalisten des Islam fühlen sich sehr wohl in einer Gegenwart, in der nicht mehr die Aufklärung und die Säkularisierung den Diskurs bestimmen sollen, sondern das christliche Erbe und die xenophoben Denkmuster des 19. Jahrhunderts, die zur großen europäischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts geführt haben.
Selbstkritischer Blick in die Vergangenheit
Doch hat man in den Sechzigerjahren nicht genau dieses christliche Erbe gegen erheblichen Widerstand entsorgt? War 1945 nicht der Aufbruch zu einem neuen Europa, in dem Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit wenn auch nicht verschwunden, so doch zumindest marginalisiert worden sind?
Hat Europa sich nicht erst nach der Französischen Revolution und in der Folge napoleonischer Reformen nach und nach vom Joch der absolutistischen Herrschaft befreien können?
All diese Fragen spielen heute scheinbar keine Rolle mehr, wenn wir über den Islam und die Glaubenswelt und das Verhalten mancher Muslime debattieren.
Es erscheint, als kämen diese Menschen mit ihren seltsamen, mitunter auch fatalen Verhaltensmustern vom Mond - und nicht aus unserer eigenen Vergangenheit. Die Zeitgenossen, die heute über den Begriff der Ehre debattieren, scheinen noch nie Flaubert, Tolstoi oder Fontane gelesen zu haben.
Zeitreise Koran
Wer den Koran aufschlägt, unternimmt eine Zeitreise. Viele Verse deuten auf eine fremde Welt hin, auf Lebensumstände, die mit unserer Gegenwart nichts zu tun haben. Und auch manche Wertvorstellung, die da verkündet wird, steht quer zu unserem Verständnis von Leben, Gesellschaft, Freiheit und Einzelperson.
Doch wer sind wir? Die Antwort auf diese Frage scheint uns schwer zu fallen. Genau das verunsichert uns, macht uns anfällig für einfache Denkmuster, die unsere Welt weder erklären noch verändern können.
Da sind zum Beispiel die aufgeklärten Muslime - gläubig zwar, aber auch gewillt, den Koran, also das Fundament ihres Glaubens, nicht nur als Offenbarung Gottes, sondern auch als Zeitdokument zu lesen.
In den letzten hundert Jahren ranken sich fast alle Auseinandersetzungen über den Islam um die Frage nach der Stellung der Offenbarung, also des Korans in der modernen Gesellschaft. Doch ein tiefsinniges Werk wie "Stern der Erlösung" des jüdischen Philosophen Franz Rosenzweig sucht man vergebens.
Textkritische Auseinandersetzung notwendig
Es ist vor allem eine scholastische Auseinandersetzung, die muslimische Gelehrte führen. Es geht um Interpretationsvielfalt, mit der man eine Brücke zur Vielfalt in der Gesellschaft bauen will. Doch das Verhältnis zum fundamentalen, sakralen Grundtext, also zum Koran, bleibt davon weitgehend unberührt.
Das ist wenig verwunderlich, denn dem Koran kommt in der islamischen Religion jene unantastbare Bedeutung zu wie Jesus im Christentum. Sicher gibt es auch bibeltreue Christen, die die Bibel wortwörtlich auslegen. Im Islam aber gibt es keine korankritischen Muslime.
Es ist offensichtlich, dass die Muslime ohne eine textkritische Auseinandersetzung mit dem Koran in den modernen Gesellschaften nicht weiterkommen. Sie werden nicht umhinkommen, diesen gordischen Knoten zu durchschlagen. Die Alternative ist die Pervertierung ihres Glaubens zur Kampfmaschine, die Legitimierung von Gewalt, wo es nichts zu legitimieren gibt. Also, keine Alternative.
Das Scheitern an den Herausforderungen der Moderne hat nicht nur soziale, sondern auch pathologische Folgen. Vor allem für die Männer, die von ihrem hohen Ross absteigen müssen.
Konstruktion eines gescheiterten Multikulturalismus
Es schafft auch jenes Bild des nicht integrierbaren, ja gefährlichen Muslims, hinter das sich alle Kräfte versammeln und bequem machen, die ein Problem mit dem Fremden schlechthin haben.
Aus der hermeneutischen Krise der Muslime wird eine Krise der offenen Gesellschaft, ein Scheitern des Multikulturalismus konstruiert, als gäbe es in unserer Welt überhaupt noch so etwas wie eine kulturelle Homogenität.
Plötzlich erscheinen Moscheebauten in deutschen Städten und der Gebetsruf des Muezzins im selben Kontext wie Zwangsehen und Ehrenmorde.
Die sakralen Quellen des Islam legitimieren nicht mehr oder weniger Gewalt als die der anderen monotheistischen Religionen. Eine Tradition, die jahrhundertelang Frauen unter Generalverdacht stellte und nicht wenige als Hexen verbrannt hat, sollte sich heute nicht als Vorbild in Bezug auf Frauenrechte aufspielen.
Genug Gewalt im Namen Gottes
Die Geschichte jedenfalls kennt genug Gewalt und Unrecht im Namen Gottes, um in der aufgeklärten Welt den Glauben von Rechtsprechung und Justiz fernzuhalten.
Genau für diesen Fall haben wir ein Grundgesetz. Darin sind die Kernwerte dokumentiert, die unsere Gesellschaft zusammenhalten. Wenn es zu einem Konflikt zwischen diesem Grundgesetz und irgendeinem heiligen Buch kommt, dann gilt immer und immer wieder das Grundgesetz. Darüber sollte es nicht einmal eine Debatte geben.
Aber anscheinend besitzt die Gesellschaft, in der wir leben, keine solche Grundsicherheit. Anders ist die Verunsicherung, die garantierte Aufregung nicht zu erklären, die jeder Konfliktsituation auf dem Fuße folgt.
Zafer Şenocak
© Zafer Şenocak 2007
Der türkischstämmige Publizist Zafer Şenocak wuchs in Ankara, Istanbul und München auf. Er studierte Germanistik, Politik und Philosophie in München. Seit 1979 veröffentlicht er Gedichte, Essays und Erzählungen in deutscher Sprache. Er war Mitbegründer der Literaturzeitschrift "Sirene" und übersetzte seit Mitte der 80er Jahre Werke türkischer Autoren. Seit 1990 lebt er als Schriftsteller und literarischer Übersetzer in Berlin.
Qantara.de
Zafer Şenocak
Islam übersetzen
Wie können sich die muslimischen Gesellschaften aus ihrer geistigen Erstarrung befreien, damit eine neue Dynamik im islamischen Denken entsteht, die mit den Denkstrukturen ihrer Zeit in Austausch treten kann, fragt der türkischstämmige Publizist Zafer Şenocak in seinem Essay.
Fareena Alam
Fünf Prinzipien für die Zukunft des Islam
Wenn der Islam aufrichtig mit sich selbst und seiner Zukunft umgeht, wird er auch nicht mehr mit Unterdrückung und Gewalt in Verbindung gebracht, meint die britische Journalistin Fareena Alam.
Der Westen und die islamische Welt
Kulturdialog statt Kampf der Kulturen
Das Thema Kulturdialog wird immer dann aktuell, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Man will von den Wissenschaftlern dann wissen, was zu tun ist, um den Kampf der Kulturen aufzuhalten, beklagt die Politikwissenschaftlerin Naika Foroutan.