Jenseits der dogmatischen Lehre
Noch vor einem Vierteljahrhundert konnte der französische Islamwissenschaftler Maxime Rodinson ein Buch mit dem Titel "Die Faszination des Islam" schreiben. Seither ist dieser Islam aber zur Bedrohung geworden. Nirgendwo sonst finden weltweit so viele Kriege statt wie im Krisenbogen von Nordafrika über die Levante zum Hindukusch; die Länder dieses Bogens haben eines gemein: Sie sind muslimisch.
Auch die Terrororganisationen Boko Haram und Islamischer Staat sowie die Taliban haben eines gemeinsam: Sie berufen sich auf den Islam. Und in den vergangenen Wochen fielen pro-palästinensische Demonstranten auf europäischen Straßen dadurch auf, dass sie antisemitische Parolen riefen.
Der Islam sei eben, so heißt es, auf Gewalt fixiert und mit der Moderne nicht zu vereinbaren. Dafür spricht vordergründig einiges, das ist aber als Urteil zu simpel: Das Problem ist nicht der Islam an sich, das Problem sind die Muslime, die ihn praktizieren.
Vielfach interpretierbar
Weltreligionen wie das Christentum oder der Islam können nur deshalb so lange bestehen, weil sie flexibel sind und den Gläubigen den Raum bieten, sich stets an Neues anzupassen. Der Islam lässt auch deswegen vieles zu, weil eine Koransure das eine sagt und eine andere das Gegenteil.
In jeder Epoche hat es in der islamischen Welt Terrorgruppen gegeben; im 12. Jahrhundert waren die Assassinen das, was heute Al-Qaida und deren Nachfolger sind. Sie waren und sie sind gefährlich, Massenbewegungen sind daraus aber nicht entstanden, im Gegenteil. So hatten die arabischen Muslime im 7. Jahrhundert die Levante nur deswegen nahezu kampflos erobert, weil die dort lebenden orientalischen Christen sie gegenüber der repressiven byzantinischen Staatskirche als Befreier begrüßten.
Vor genau zweihundert Jahren begann Goethe mit der Lektüre des "Diwan" des persischen Dichters Hafis; fünf Jahre später setzte er mit seinem "West-östlichen Diwan" dem muslimischen Orient ein Denkmal. Goethe war von Hafis' liberaler Islampraxis beeindruckt; nie hätte sich der Freigeist von einem totalitären Islam inspirieren lassen.
Der Münsteraner Islamwissenschaftler Thomas Bauer hat für die Epoche des klassischen Islams, für die Hafis steht, also die Jahrhunderte zwischen der Frühzeit des Islams und der Moderne, den Begriff der Ambiguitätstoleranz geprägt. Die Vielfalt der Diskurse, etwa bei der Koranauslegung, und die Mehrdeutigkeiten, wie sie Hafis beherrschte, waren nicht ein Ärgernis, sondern ein selbstverständlicher Teil des Alltags. Die Muslime vernichteten diese Ambiguität erst während ihres Modernisierungsprozesses. Denn erst in der täglichen Auseinandersetzung mit dem überlegenen Westen entstand das Bedürfnis nach der einen starken Wahrheit.
Verfehlter "Homo islamicus"
Heute prägt eine Ambiguitätsintoleranz das Denken der Muslime. So wie die Salafisten für sich beanspruchen, für den einzig "wahren" Islam zu stehen, so gehen auch viele im Westen den Salafisten in die Falle, dass es nur einen Islam geben solle. Dieser "Homo islamicus" aber, dessen Denken und Handeln sich um nichts anderes drehen soll als um den Islam, ist für das tägliche Leben ungeeignet.
Unter den Extremisten gibt es aber diesen Typus, der alles seiner Wahrheit unterordnet. Die meisten Muslime passen sich jedoch unverändert, quasi ad hoc, den Veränderungen an. Der säkulare syrische Philosoph Sadiq al-Azm bringt das auf folgende Formel: Der dogmatische Islam ist wegen der Betonung des Monotheismus mit der Moderne unvereinbar, der historische Islam passt sich aber als dynamisch-evolutorischer Glaube ständig an.
Viele erheben heute Anspruch auf den Islam: Saudi-Arabien und Iran legitimieren mit ihm ihre Herrschaft; die Mittelschicht entwickelt einen "Business Islam", der für individuelle Freiheit und eine moderne Gesellschaft gut ist; Extremisten greifen unter Berufung auf den Islam zur Gewalt und handeln in einer Heilserwartung wie vor Jahren in Europa "Action directe" und die Baader-Meinhof-Bande.
Der Islam in der Krise
Der Islam steckt heute unbestritten in einer tiefen Krise. Die meisten Muslime - ob in der Türkei, in Indien oder in Indonesien - leben aber in Demokratien. Das Problem sind die arabischen Muslime. In der arabischen Welt geht seit dem Protestjahr 2011 die postkoloniale Phase zu Ende. Die Kolonialmächte hatten nach dem Zweiten Weltkrieg Staaten zurückgelassen, deren Grenzen sie gezogen hatten. Die Menschen identifizierten sich nicht mit ihnen, der Islam wurde zum identitätsstiftenden Nationalismusersatz. Heute zerfallen einige Staaten; Milizen, die sich auf den Islam berufen, streben nach der Macht.
Dabei geht eine Saat auf, die Saudi-Arabien seit Jahrzehnten sät. Legitimiert wird das Königreich durch eine Symbiose, welche das Herrscherhaus mit der puritanisch-wahhabitischen Lehre eingeht. Die steht wie keine andere für Intoleranz und die Aufforderung, "Ungläubige" und Andersgläubige im Islam zu bekämpfen. Die Muslime müssen erkennen, dass diese Art des Muslimseins in der Welt von heute keinen Platz hat und dass ihr jegliche positive Energie fehlt, eine Zivilisation zu sein. Und dass deshalb "der Islam" als Bedrohung wahrgenommen wird.
Rainer Hermann
© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2014