Der Gewalt den Boden entziehen

Beim aktuellen Streit um das islamfeindliche Video "Innocence of Muslims" geht es nicht um einen Kampf zwischen dem Islam und dem Westen, sondern um einen Konflikt zwischen Traditionalismus und modernen Wertvorstellungen.

Von Leena El-Ali

In der vergangenen Woche sind die westlich-muslimischen Beziehungen erneut in den Fokus der Weltöffentlichkeit geraten, nachdem es zahlreiche Proteste in Ländern des Nahen Ostens, aber auch in Asien und Afrika gab. Die meisten Menschen empfinden das Video, das die Proteste auslöste, den Film "Innocence of Muslims", in der Tat als Beleidigung des Islam und der Muslime.

Gleichzeitig betonen viele Menschen in den USA und anderswo, dass es letztlich um das Recht auf freie Meinungsäußerung gehe und es deshalb das Beste sei, man würde den Film schlicht ignorieren. Dem kann sich eine sehr große Zahl von Muslimen anschließen.

Es ist nicht das erste Mal, dass wir Zeugen einer solch heiklen Situation werden. Dafür reicht es, uns an den Karikaturenstreit vor sechs Jahren zu erinnern, als beleidigende Zeichnungen, die den Propheten Mohammed zeigten, in mehreren europäischen Zeitungen veröffentlicht wurden.

Zusammenstoß zweier grundverschiedener Welten

Doch wie damals auch handelt es sich hierbei weniger um eine Konfrontation zwischen dem Islam und dem Westen – oder dem Islam und den demokratischen Werten –, als vielmehr um einen Zusammenstoß zweier grundverschiedener Welten: einer Welt, in der den "traditionellen" Werten noch überragende Bedeutung beigemessen wird und einer anderen, in der die Werte einer modernen, "individualistischen" Gesellschaft dominieren. So sind es denn auch eher soziale denn religiöse Werte, die den Kern des aktuellen Konfliktes bilden.

Demonstration vor der deutschen Botschaft in Khartum; Foto: Getty Images/AFP
"Für viele Muslime bestätigt das Schmähvideo 'Innocence of Muslims' das, was sie schon lange – insbesondere seit der Invasion Iraks im Jahr 2003 – vermuteten: dass der Westen einen Krieg gegen den Islam selbst führt", schreibt Leena El-Ali; Foto: Getty Images/AFP

​​In westlichen Gesellschaften werden individuelle Werte und Freiheitsrechte als die wichtigsten angesehen. Der durchschnittliche, nicht im Westen lebende Muslim kann nicht verstehen, dass eine Regierung nichts unternimmt, um eine – in ihren Augen – so offensichtliche Beleidigung zu unterbinden. Nach seinem oder ihrem Verständnis ist diese Frage untrennbar mit dem Handeln der Regierung verknüpft – eher als mit der Religion. Nach westlichem Verständnis wiederum kann diese Frage unmöglich eine die Regierung betreffende sein, weshalb sie eine religiöse sein muss.

Zwar mag es richtig sein, dass einige muslimische Führer die Aufmerksamkeit gezielt auf diesen Film lenken, um von der prekären politischen Situation im eigenen Land abzulenken, doch ändert dies nichts an der Tatsache, dass die Menschen auf der Straße sehr empfindlich auf jede als solche empfundene Beleidigung des Islam reagieren.

Vor zwei Jahrzehnten wurde der Film „Die letzte Versuchung Christi“ von Martin Scorsese in den meisten arabischen und muslimischen Ländern verboten, weil die traditionellen Werte dieser Gesellschaften keine Darstellung von Christus (eine auch im Islam respektierte Person) erlaubten, die als herabsetzend empfunden wird. Dabei geht es also nicht um einen Kampf zwischen dem Islam und dem Westen, sondern um einen Konflikt zwischen Traditionalismus und modernen Wertvorstellungen.

Bestätigung antiwestlicher Vorurteile

Leena El-Ali, Foto: © Search for Common Ground
Die amerikanisch-libanesische Publizistin Leena El-Ali ist Vizepräsidentin für strategische Entwicklung bei der internationalen Organisation für Konfliktbewältigung "Search for Common Ground", Foto: © Search for Common Ground

​​Um eines klarzustellen: Dies alles heißt nicht, dass den Muslimen gar nichts an individualistischen Werten oder Menschenrechten als solches läge, dass Traditionalismus von Natur aus gewalttätig wäre oder dass allen Menschen im Westen jegliche Ehrerbietung gegenüber religiösen Symbolen fremd wäre. Und doch ist es eine Tatsache, dass noch vor 50 Jahren, unter dem Eindruck des Zweiten Vatikanischen Konzils, wohl das Meiste, was heute im Osten verboten ist, auch im Westen zu großen Teilen nicht erlaubt worden wäre.

Betrachten wir den aktuellen Konflikt, tritt noch eine zweite Dimension hinzu: Für die meisten Muslime bestätigt das Schmähvideo "Innocence of Muslims" das, was sie schon lange – insbesondere seit der Invasion Iraks im Jahr 2003 – vermuteten: dass der Westen einen Krieg gegen den Islam selbst führt. Aus diesem Grund wurden auch nicht nur die amerikanischen Botschaften angegriffen, sondern auch europäische – die Protestierenden sehen nicht nur die USA, sondern den Westen insgesamt als Gegner in diesem Konflikt an.

Appell zur Besonnenheit

Einige Einzelpersonen und Gruppen haben sich vorgewagt und demonstriert, dass Verständnis vonnöten ist, um Lösungswege zu finden. So sagte etwa die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton bei einem Empfang anlässlich des muslimischen Feiertages Eid ul-Fitr, dass "die Vereinigten Staaten den Inhalt wie die Botschaft des Videos ablehnen sowie jedweden vorsätzlichen Versuch, den Glauben anderer herabzuwürdigen" – auch wenn weder sie noch jeder andere Amerikaner das Recht habe, den Film zu verbieten.

Auch Imam Mohammed Magid, der einer der größten Moscheen in den USA vorsteht, verurteilte die gewaltsamen Proteste – und das sowohl in einer Rede in der Moschee als auch gegenüber Gläubigen in Ägypten, dem er via Satellitenfernsehen versicherte, dass das islamfeindliche Video von der großen Mehrheit der Amerikaner ebenfalls abgelehnt werde.

Als gute Bürger unserer globalen und vernetzten Welt müssen wir der Versuchung widerstehen, in Klischees zu denken oder die Apokalypse herbeizureden. Verantwortungsbewusste Persönlichkeiten überall in der Welt sollten stattdessen von sich aus alles unternehmen, um der Gewalt den Boden zu entziehen und Hassreden in all ihren Formen verdammen.

Leena El-Ali

© Common Ground News Service 2012

Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de