Warum 72 Prozent der Indonesier die Scharia wollen
Es mag auf ersten Blick alarmierend wirken. Doch die Tatsache, dass so viele Indonesier laut Umfrage des "Pew Research Centers" die Einführung der Scharia begrüßen, sollte kein Grund zur Besorgnis sein, da der Begriff Scharia von der indonesischen Bevölkerung verschieden interpretiert wird.
Es bedeutet also nicht, dass die indonesische Gesellschaft grundsätzlich ein Rechtssystem befürwortet, das strenge islamische Kleiderordnungen, Körperstrafen sowie die öffentliche Klassifizierung von Nicht-Muslimen vorsieht.
Der Islam als Religion, als Rechtsordnung, als Kultur und Lebensstil nimmt für viele Menschen in Indonesien einen verschiedenartigen Stellenwert. Die Definition von Scharia ist von Person zu Person unterschiedlich, selbst unter Studenten und religiösen Führern herrscht keine einhellige Meinung bezüglich der Auslegung des islamischen Rechts.
Amaney Jamal, Sonderberaterin des "Pew Research Centers" an der Princeton University erklärt, dass der Begriff Scharia auch oft mit Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit assoziiert wird. Scharia bedeutet auf Arabisch "Pfad" oder "Weg". Es ähnelt dem tao im Chinesischen, das auch "Pfad" und "Weg" bedeutet.
Die Scharia im jeweiligen Kontext begreifen
Allerdings verwendet man heutzutage den Begriff Scharia oftmals in Verbindung mit dem islamischen Recht, mit dem Erlaubten (halal) und dem Verbotenen (haram) . Eine weitere Bedeutung von Scharia bezieht sich auf die soziale Gerechtigkeit und Fairness zwischen denen, die ihren Glauben an die Regierung und die Institutionen verloren haben. Kurzum: die Pew Studie kann nur vor diesem Hintergrund gelesen und verstanden werden.
In Indonesien betrachtet man die Scharia aus einem besonderen Blickwinkel. Beispielsweise werden Nicht-Muslime nach strenger Auslegung des islamischen Rechts als "Bürger zweiten Ranges" betrachtet. Dennoch gibt es bislang keine derartigen Klassifizierungen in Indonesien, da diese den Grundsätzen der UN-Menschenrechtserklärung, die Indonesien unterzeichnet hat, widersprechen würden.
Einige werden möglicherweise die indonesische Provinz Aceh als Beispiel dafür anführen, was Indonesier de facto unter Scharia verstehen. Dort hat man nämlich islamische Rechtsprinzipien eingeführt, denen zufolge Frauen ein Kopftuch tragen müssen, Alkoholkonsum und Glücksspiele verboten sind und die Entrichtung der Almosensteuer (zakat) vorgesehen ist.
Obwohl die islamischen Rechtsprinzipien nicht für die Nicht-Muslime in Aceh gelten, fühlen sich viele Menschen dort unter Druck gesetzt, diesen Regeln zu folgen. Nichtsdestotrotz weichen die Praktiken in allen übrigen Landesteilen von dieser eigenwilligen Interpretation der Scharia in Aceh ab. Der Grund hierfür liegt mitunter im Synkretismus der Inselrepublik und der Entschlossenheit vieler Indonesier dem Beispiel Acehs nicht zu folgen.
Demokratie und Scharia
Der moderne muslimische Denker Asghar Ali Engineer glaubt, dass einige der Klassifizierungen kontextbezogen und daher in einem modernen Zusammenhang prinzipiell nicht mehr gültig sind. In einem 2010 publizierten Artikel bezieht er sich insbesondere auf das Beispiel der Sklaverei, die irgendwann im Koran gesetzlich verboten wurde.
Zudem erwähnt er, dass es für das heutige Verständnis von Demokratie und Bürgerrecht keinerlei Entsprechungen im Koran gibt. Seiner Ansicht nach hätten einige Konzepte, die als Teil der Scharia verstanden werden, heute an Relevanz verloren und passten nicht mehr in den zeitgemäßen Kontext. Seine Sichtweise wird von vielen islamischen Studenten und religiösen Führern auf der ganzen Welt geteilt.
Der Universitätsprofessor Robert Hefner aus Boston schreibt in seinem 2011 erschienenen Werk "Sharia Politics: Islamic Law and Society in the Modern World", dass indonesische Muslime beides unterstützen: Scharia und Demokratie.
Der Pew-Studie zufolge ziehen außerdem 61 Prozent der Muslime Indonesiens die Demokratie dem Autoritarismus vor. Demzufolge ist die Durchsetzung einer Scharia im Sinne eines drakonischen islamischen Gesetzes durch ein autoritäres Regime sehr unwahrscheinlich.
Jennie S. Bev
© Common Ground News Service 2013
Übersetzt aus dem Englischen von Julie Schwannecke
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de