Radikalisiert der Islam?
Nach den terroristischen Attentaten von Paris war in den Medien immer wieder zu lesen, der Nährboden für die dschihadistische Ideologie entstehe im muslimischen Umfeld. So behauptete der Psychologe Ahmad Mansour im "Spiegel", dass die terroristische Gewalt durch eine ideologische Indoktrinierung verursacht werde, die auf die patriarchalischen Strukturen in muslimischen Familien und die muslimischen Gemeinden zurückgehe.
Viel zu lange wurden solche Ansichten nicht hinterfragt. Studien belegen, dass die meisten straffälligen Dschihadisten, die in Deutschland oder in Europa geboren und aufgewachsen sind, vor ihrer Radikalisierung nicht religiös waren. Dies zeigt etwa eine Studie des holländischen Radikalisierungsforschers Edwin Bakker zu Profilen von 313 dschihadistischen Straftätern, die in Zusammenhang mit terroristischen Anschlägen bzw. Anschlagsversuchen verurteilt wurden. Nur fünf Prozent der Verurteilten wuchsen in einer religiösen Familie auf. Fast die Hälfte lebte in ihrer Kindheit und Jugend in einem weitgehend säkularen Umfeld.
Islamische Erziehungsmethoden spielen keine Rolle
Ähnliches gilt für Deutschland: Nahezu alle Dschihadisten, die zwischen 2011 und 2013 vor dem Berliner Kammergericht wegen der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden sind, hatten vor ihrer Radikalisierung keinen oder nur einen geringen Bezug zum Islam.
Beispiel Alican T.: Der zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilte Jugendliche unterstützte Dschihadisten in Pakistan. Vor Gericht sagte er aus, dass seine Eltern keinen besonderen Wert auf die Einhaltung strenger islamischer Glaubensregeln gelegt hätten. T. ging als Junge nur unregelmäßig in die Moschee, hatte dadurch auch nur selten Kontakte zu Imamen, die ihn hätten negativ beeinflussen können.
Sein Radikalisierungsprozess begann dann mit 16 Jahren. Hierfür waren zahlreiche Faktoren entscheidend; am wichtigsten waren aber seine Freunde und das Internet. Gemeinsam schauten sie sich regelmäßig Kriegsvideos aus Afghanistan und dem Irak an und waren schockiert. Erst durch die Videos entwickelte sich bei ihm ein oppositionelles Verhalten. Islamische Erziehungsmethoden spielten dabei überhaupt keine Rolle.
Zahllose Anhaltspunkte zeigen, dass sich etliche deutsche Dschihadisten vor ihrer Radikalisierung nicht mit dem Islam beschäftigten. Weder für die späteren Dschihadisten Yusuf O., Thomas U. oder Fatih K., noch für die Deutsch-Kurdin Filiz G. spielte der islamische Glaube in ihrer Kindheit eine besondere Rolle. Die Radikalisierungsprozesse der deutschen Dschihadisten wurden nicht durch den Islam verursacht, sondern durch signifikante Identitätsprobleme.Nicht die Identifizierung mit der Herkunftskultur und der in ihr vorherrschenden islamischen Religion ist der Auslöser für Radikalisierungen, sondern die kulturelle Entfremdung vom Herkunftsland der Eltern und der deutschen Gesellschaft.
Fundiertes Wissen schützt vor Radikalisierung
Stefan Aust, Herausgeber der "Welt", bezeichnete den Islam nach den Pariser Attentaten als Unterstützungsbasis des Dschihadismus. Der Islam dürfe sich "nicht so leicht aus der Verantwortung stehlen", schließlich seien viele dschihadistische Terroristen, die grausame Anschläge begangen haben, Muslime und beriefen sich bei ihren Taten auf den Islam. Doch welche Rolle spielt der Islam für den Dschihadismus wirklich?
Es stimmt, dass viele dschihadistische Täter Jugendliche sind, die aus einer muslimischen Familie stammen. Wenn allerdings jemand feststellt, dass der dschihadistische Terrorismus nichts mit dem Islam zu tun hat, geht es nicht darum, die Religionszugehörigkeit der Terroristen zu leugnen. Es geht um den Hinweis, dass die Täter säkular und ohne starken Bezug zum Islam aufwuchsen.
Religiös erzogene Jugendliche verfügen zumeist über eine fundierte religiöse Identität, die sie vor einer Radikalisierung hin zum dschihadistischen Terrorismus schützt. Sie lassen sich gerade nicht so leicht radikalisieren, weil sie ein ausgeprägtes Wissen über den Islam besitzen. Dadurch sind sie in der Lage, zwischen islamischen Glauben und der Propaganda der salafistischen Prediger zu unterscheiden. Jugendliche, die hingegen keinen tiefergehenden Bezug zum islamischen Glauben haben, sind stärker gefährdet, sich zu radikalisieren. Die muslimische Gemeinde in Deutschland kann daher auch nicht dafür verantwortlich gemacht werden, wenn sich Jugendliche radikalisieren und die dschihadistische Weltanschauung attraktiv finden.
Dschihadisten pervertieren den Islam
Es stimmt auch, dass sich die Dschihadisten bei ihren Taten auf den Islam berufen. Aber was verstehen die Dschihadisten unter dem Islam? Sie behaupten, für die Muslime zu sprechen. Aber wer ist in ihren Augen ein Muslim und wer nicht?
In erster Linie sind die Dschihadisten Terroristen, die fast alle Muslime als Ungläubige ansehen. Warum? Sie unterstellen den europäischen Muslimen, im Zustand der Barbarei zu leben und vom islamischen Glauben abgefallen zu sein. Nur diejenigen, die bedingungslos der dschihadistischen Weltanschauung folgen, werden als Muslime akzeptiert. Alle anderen – und das sind 99 Prozent der Muslime in Europa – werden als Abtrünnige diffamiert.
Es stellt sich also die Frage, ob wir ausgerechnet diejenigen, die Terror verbreiten und fast alle Muslime als Ungläubige darstellen, als Muslime anerkennen sollten. Stehlen sich deutsche Muslime wirklich aus der Verantwortung, wenn sie behaupten, dass habe nichts mit dem Islam zu tun? Nein, denn bei dieser dschihadistischen Interpretation des Islam handelt es sich nicht mehr um einen religiösen Glauben.
Dschihadisten haben den Islam für ihre politischen und terroristischen Zwecke pervertiert. Dadurch hat er sich immanent gemacht und jegliches Religiöse verloren. Sie berufen sich also nicht auf einen religiösen Glauben – ihr 'Islam' ist reiner Extremismus.
Dirk Baehr
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