Ein Geschenk des Himmels
Natürlich haben die Silvester-Grapscher Täterprofile, die sich analysieren lassen. Natürlich gibt es für die Taten Ursachen, denen man auf den Grund gehen muss. Diese Bemühungen bleiben in der hitzigen Debatte nach den Übergriffen von Köln allerdings weitgehend auf der Strecke. Die Ereignisse werden stattdessen ausgeschlachtet. Wer schon immer etwas gegen Flüchtlinge, den Islam oder junge Männer arabischen Aussehens sagen wollte, lässt sich nun so richtig gehen. Die Ergebnisse sind im Internet, im Fernsehen und auf Parteiversammlungen zu besichtigen.
Aber nicht nur für die Fremdenhasser und all diejenigen, die endgültig mit “Merkels Flüchtlingspolitik” abrechnen wollen, sind die Gewaltausbrüche der Silvesternacht ein Geschenk des Himmels. Auch das institutionalisierte islamische Milieu in Deutschland wird die Taten für seine Zwecke zu nutzen wissen. Sind die Täter nicht fehlgeleitete Muslime, die gegen die religiösen Gebote verstoßen haben? Hätten sie sich diese Schande nicht ersparen können, wenn sie zum Gebet gegangen wären, statt sich – enthemmt vom Alkohol – wildfremden Frauen unzüchtig zu nähern? Wahrlich, wir kennen den Weg, auf dem sich die Sünder reinwaschen und auf dem ihre Brüder und Altersgenossen sich gegen ähnlichen Frevel wappnen können!
Vorfälle von Köln als „Weckruf für Muslime“
Am schnellsten war wie so oft der ehemalige Boxer Pierre Vogel zur Stelle. “Der Gesandte Allahs sagte: ´Es ist besser, dass einer von euch mit einem Eisenstachel in den Kopf gestochen wird, als dass er eine Frau berührt, die er nicht berühren darf‘”, verkündete der Prediger, den seine Anhänger Abu Hamza nennen, auf seiner Facebookseite. “Die Vorfälle in Köln” sollten “ein Weckruf sein für alle Muslime”, fügte er in einer Videobotschaft hinzu. Das Problem der Täter sei eben, dass sie den Glauben nicht praktizierten.
Aber nicht nur der stramm fundamentalistische Internet- und Straßenprediger Vogel geht aus der Deckung in den Gegenangriff. “Eine Todsünde” hätten die jungen Männer in Köln begangen, erklärt der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek, auf der Webseite Islam.de. Seine Botschaft: Wer gläubig ist, immunisiere sich gegen solche “Schandtaten”. In Mazyeks Statement darf der Seitenhieb auf die von “Oktoberfest” und “Karneval” geprägte säkulare Gesellschaft nicht fehlen, in der es einen erhöhten Bedarf an “Frauenhäusern” gebe.
Die Täter von Köln hätten das “koranische Alkoholverbot ignoriert“, pflichtet die Journalistin Khola Maryam Hübsch auf Qantara.de ihm bei. Im Kampf gegen eine “frauenverachtende Mentalität” könne der Islam “Partner” sein. So verständlich die Regung von Gläubigen sein mag, “den Islam” in der Post-Köln-Debatte verteidigen zu wollen, so atemberaubend ist die Geschwindigkeit, mit der einige seiner bekannten und lautstarken deutschen Sprachrohre aus den Ereignissen ein Werkzeug der Dawa, der Werbung für den Glauben, machen.
Es ist eine Rhetorik in zwei Schritten: Der Islam werde von der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu Unrecht als frauenverachtend und gewaltanstiftend diffamiert. Gegen diese übermächtigen Vorurteile komme man nicht an. Deshalb habe die Anbiederung an die Mehrheitsgesellschaft auch keinen Zweck. Das Heil liege in der strengen Befolgung der religiösen Vorschriften.
Der institutionelle Islam versucht den Moment zu nutzen, um die Muslime in Deutschland, gerade auch die “verlorenen Schafe”, um sich zu scharen. Neben der Hetze von Pegida und Co. wird auch diese Rhetorik die Gesellschaft polarisieren. Verbände, Moscheegemeinden und sonstige öffentliche Strukturen des Islam in Deutschland scheitern an der zeitgemäßen Transmission islamischer Werte. Seit geraumer Zeit gelingt diese Wertevermittlung, wenn überhaupt, nur noch im privaten Umfeld, in den Familien. Das gilt für die Einwanderungsgesellschaft genauso wie für die Herkunftsländer der Geflüchteten in der arabischen Welt.
Bittere Verbotskultur im Islam von heute
Dass der real existierende institutionalisierte Islam in Deutschland bei der Lösung der jäh ins Rampenlicht geschleuderten Probleme helfen kann, darf stark bezweifelt werden.
Dafür sind seine Denkfiguren und seine Vereinnahmungsansprüche zu absolut. Das kann man allein daran ablesen, wie über das “Alkoholproblem” gesprochen wird. Die Täter von Köln seien “alkoholisiert” gewesen und hätten damit gegen die koranische Vorschrift verstoßen, heißt es. Mit radikalen, ethisch-religiös begründeten Verbotslehren wie dieser wird man aber die Zukunft von in Deutschland Heranwachsenden nicht konstruktiv gestalten können.
Die jungen Männer kommen aus Gesellschaften, in denen es – dank saudischem Einfluss und hanseatischem Geschäftssinn – nur alkoholfreies Holsten mit Erdbeergeschmack zu kaufen gibt. Das hat mit überlieferter islamischer Kultur nicht viel zu tun. Traditionell wurden in islamischen Gesellschaften, egal was im Koran steht, Wein und andere berauschende Getränke konsumiert, vom Dattelschnaps bis zur gegorenen Stutenmilch. Literatur und Archäologie zeugen gleichermaßen reichlich davon, dass es geradezu eine Kultur des Trinkens gab mit ihren eigenen Regeln, Formen und Zeiten. Die Koketterie mit den religiösen Verboten und die geistreiche Provokation der selbsternannten Religionswächter waren Teil der Veranstaltung. Die gute Sitte bestand darin, es nicht zu übertreiben.
Wie sollen Heranwachsende, denen in den Herkunftsländern die bittere Verbotskultur des “modernen” Islam eingetrichtert wurde, an einen verantwortungsvollen Umgang mit den Reizen der westlichen Welt herangeführt werden? Darauf scheinen die Institutionen des offiziellen Islam in Deutschland keine andere Antwort zu haben als die Einflößung eben jener Verbotskultur.
Die Folgen sind absehbar. Der Mechanismus von Schuld (-vorwürfen) und Sühne (-erwartung) ist nur zu bekannt. Die Attentäter von Paris, die Syrienkrieger aus Deutschland und anderen europäischen Ländern waren fast ausnahmslos einmal kleine Diebe und Dealer und saßen deswegen im Gefängnis. Oft trafen sie dort auf einen seelsorgenden Prediger, der sie auf den “geraden Weg” brachte. Man wird sich nicht wundern dürfen, wenn der ein oder andere Silvester-Grapscher irgendwann als Attentäter in Syrien oder irgendwo zwischen Paris und Berlin wiederkehren wird.
Ein algerischer Freund schilderte dem Autor dieser Zeilen, wie er als Schüler in den 80er Jahren in Algerien vor die Wahl gestellt wurde, sich entweder der Gruppe der “streng praktizierenden Muslime” oder der „Mafia der Drogendealer und –konsumenten” anzuschließen. Ein Dazwischen habe es nicht gegeben. Wer auf keine der beiden Jugendgruppen Lust gehabt habe, habe sich isolieren müssen und sei “sozial tot” gewesen. Der algerische Freund ist nach Kanada ausgewandert und lebt dort glücklich.
Die Gefahr ist, dass sich jene strikte Alternative der Lebensentwürfe – entweder religiöse Strenge oder Kriminalität – auch in der Einwanderungsgesellschaft in Deutschland verfestigt. In vielen Vierteln größerer und kleinerer deutscher Städte ist dieser Prozess seit Längerem zu besichtigen. Die Aufgabe muss sein, einen Ausweg aus dieser fatalen Dichotomie zu finden.
Stefan Buchen
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