"Die Toten kommen"
"Die Toten kommen" - was wie der Titel eines Horrorfilms klingt, war als kollektive Kunstaktion angekündigt. Auf dem muslimischen Teil des Friedhofs Berlin-Gatow wurde im Beisein eines Imams ein Sarg mit den vermeintlichen Überresten einer syrischen Frau beerdigt, die auf der Flucht nach Europa im Mittelmeer ertrunken war. Ihre Leiche wurde zuvor in Italien exhumiert.
Die Geschichte der Syrerin ist exemplarisch für das Schicksal vieler. Gemeinsam mit ihrem Mann und ihren Kindern flüchtete sie aus Damaskus über den Sudan, Ägypten und Libyen. Der Landweg über die Türkei war ihnen durch eine meterdicke Mauer aus Stacheldraht verschlossen. Ihr Boot kenterte im Mittelmeer, sie und ihre zweijährige Tochter kamen um. Der Mann und die zwei überlebenden Söhne warten nach Angaben der Künstler derzeit in Deutschland auf die Bewilligung ihrer Asylanträge.
Inszeniert war die Kunstaktion als Protest gegen die rigide Verschärfung der EU-Flüchtlingspolitik, wie der Sprecher des "Zentrums für politische Schönheit" (ZPS), Justus Lenz, erklärte: "Deutschland ist eines der reichsten Länder der Welt. Deutschlands Bürokratie hat Möglichkeiten, sich um das Problem zu kümmern, und tut nichts."
Zur medienwirksamen Aktion waren auch Politiker eingeladen. Regierungsverantwortliche, Staatsekretäre und Berliner Ministerialbeamte standen auf der Gästeliste des "künstlerischen" Anschauungsunterrichts 'Die Humanität Europas'. Die Sitzordnung war genau festgelegt: Bundesinnenminister Thomas de Maizière mit Frau und Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Ehemann sollten in der ersten Reihe Platz nehmen, Reden waren bereits vorbereitet. Gekommen ist niemand.
Vorwurf der Pietätlosigkeit
Eingetragen ist das Künstlerkollektiv im Vereinsregister des Amtsgerichts Charlottenburg als "Sturmtruppe zur Errichtung moralischer Schönheit, politischer Poesie und menschlicher Großgesinntheit". Im Amtsblatt ist dort zu lesen: "Kunst muss weh tun, reizen und Widerstand leisten". Rupert Neudeck, Mitbegründer der Deutschen Notärzte e.V. auf dem Flüchtlingsschiff "Cap Anamur", unterstützt die Aktionen aus vollem Herzen. "Wir brauchen in der deutschen und auch in der europäischen Öffentlichkeit Marksteine, an denen uns klar wird, in welcher Dimension Menschenrechtsverletzungen auf der Welt um uns herum passieren", sagte er.
Andere hatten sich schon im Vorfeld kritisch über die umstrittene Kunstaktion geäußert. Für die Kommentatorin der "Süddeutschen Zeitung", Sonja Zekri, grenzt die Aktion "an politische Pornographie". Und sie stellt die Frage: "Was folgt als nächstes? Das 'Zentrum für politische Schönheit' hat drastische, aber kluge Kampagnen unternommen. Diese Aktion jedoch gibt nur vor, die Ohnmacht der Opfer zu verdeutlichen. In Wahrheit nimmt sie ihnen das Letzte, was sie haben."
Der menschenrechtspolitische Sprecher der "Grünen", Volker Beck, sieht das zwiespältig. "Tote Flüchtlinge zum Gegenstand einer Kunstaktion zu machen, ist befremdlich und pietätslos." Aber er sieht auch politischen Nachbesserungsbedarf. "Die europäische Union muss alles dafür tun, diese Menschen zu identifizieren." Für Katja Kipping, Chefin der Linkspartei, war die Aktion "hart an der Grenze, aber auch gerade deshalb direkt an den berührenden Themen dran." Rupert Neudeck, der im Kuratorium des ZPS sitzt, verteidigt dagegen den radikalen Ansatz der Künstler, die schockierende Bilder schaffen wollten. "Umstritten ist für diese Kunstaktionen ein positives Attribut. Diskussion zu solchen Aktionen ist erwünscht, auch zu der, die in Berlin stattgefunden hat."
"Aktionskunst muss weh tun"
Zehn Leichen haben die politischen Kunstakteure nach eigener Aussage in Italien, Griechenland und der Türkei exhumiert, in Zusammenarbeit mit den dortigen Imamen, Pfarrern und Totengräbern. Sie werden mit ausdrücklicher Zustimmung der Angehörigen nach Deutschland gebracht. Die Künstler wollen die anonymen Toten hier würdevoll begraben und den Flüchtlingen bewusst "eine letzte Ruhestätte schenken", wie der künstlerische Leiter, Philipp Ruch, dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" sagte.
Ruch, der sich Chefunterhändler des Zentrums nennt, ist kein politischer Spinner, sondern promovierter Philosoph und versierter Theatermacher. Am Maxim Gorki Theater in Berlin, am Theater Dortmund und auf dem Theaterfestival Steirischer Herbst hat er schon Stücke inszeniert. Zusammen mit den Netzaktivisten des ZPS war er sogar 2012 für den "Deutsche Welle Blog Award" nominiert. "Aktionskunst wirft immer die Frage auf, wie frei die Kunst ist. Wenn irgendwelche Zuschauer dem Zentrum für politische Schönheit ihre Aktionen verbieten wollen, haben sie keinen zeitgemäßen Kunstbegriff", äußerte er sich selbstbewusst gegenüber der Presse.
Globalisierung der Gleichgültigkeit
Seit 2008 konfrontieren die Künstler des "Zentrums für politische Schönheit" die Öffentlichkeit mit spektakulären Kunstaktionen, um auf ihrer Meinung nach krasse politische Missstände aufmerksam zu machen. 2014 montierten sie mitten in Berlin Kreuze von Mauertoten ab, um sie am Grenzzaun nach Europa wieder anzubringen. Kuratoriumsmitglied Rupert Neudeck begrüßt diese Aktivitäten ausdrücklich. "Das sind alles Signale, die wir brauchen, damit wir hier in Europa und in Deutschland nicht in der Globalisierung der Gleichgültigkeit versacken."
Aktuell geht es den Künstlern um die Verschärfung der derzeitigen Flüchtlingspolitik, erklärt ZPS-Sprecher Justus Lenz im Gespräch: "Das ist ein Abschottungskrieg." Auf der Webseite des ZPS sind die Folgen dieser Flüchtlingspolitik in brutaler Realität dokumentiert: ertrunkene Flüchtlinge, namenlos in Massengräbern verscharrt. Tote Körper, die in Italien an Land gespült wurden, in einem verrotteten Kühlhaus zusammenpfercht, davor eine eingetrocknete Blutlache. Unvereinbar mit der Würde des Menschen, auch nach seinem Tod, so die Botschaft.
Ein Punkt, den auch Klaus Staeck, langjähriger Präsident der Berliner Akademie der Künste, anmahnt: "Wenn wir eine Wertegemeinschaft sein wollen, dann müssen wir uns auch an Werte erinnern. Und dazu gehört auch der Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes ("Die Würde des Menschen ist unantastbar"). Da sind wir als Gesellschaft ganz anders in der Pflicht." Die aktuelle Kunstaktion in Berlin sieht Staeck trotzdem kritisch. Für ihn ist Provokation zwar ein legitimes Mittel, Aufmerksamkeit zu bekommen, aber er stellt doch die Frage: "Provoziert man um des Provozierens willen?"
Mahnung für den UN-Flüchtlingstag
Schriftsteller Ingo Schulze, der erst kürzlich mit 1.000 weiteren Autoren aus 26 Ländern einen Appell an die Politik für eine humanere Flüchtlingspolitik unterzeichnet hat, meint: "Grundsätzlich finde ich solche Aktionen richtig, obwohl es sich immer im Detail entscheidet, ob und wie angemessen sich so etwas vollzieht." Aus seiner Sicht trägt Europa eine historische Bringschuld. "Die Frage ist letztlich, in welchem Maß wir Europäer bereit sind, unserer Verantwortung gerecht zu werden und diese Welt als eine Welt zu sehen - und dementsprechend zu handeln. Letztlich geht es ja darum, nicht nur erste Hilfe zu leisten, sondern die Ursachen für die Flucht zu beseitigen."
Den Zeitpunkt für die brisante Kunstaktion hat die Gruppe "Zentrum für politische Schönheit" bewusst gewählt: Am 20. Juni 2015 ist UN-Flüchtlingstag. In Deutschland wird an diesem Tag zum ersten Mal auch an die Opfer von Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg erinnert. Millionen von Flüchtlingen und Heimatvertrieben mussten sich damals eine neue Heimat suchen und waren froh um jede Form der humanitären Hilfe. Klaus Staeck sieht hier historische Bezüge bis heute: "Ich habe 1986 mein erstes Plakat zu diesem Thema gemacht, mit dem Titel "Stell dir vor, Du musst flüchten und liest überall: Ausländer raus.
"Die Beerdigung in Berlin war nur der Auftakt der aktuellen Aktionen des "Zentrums für politische Schönheit". Am vergangen Sonntag (21.6.) hatte sich das Künstlerkollektiv für eine weitere Protestaktion in Berlin gerüstet: der "Marsch der Entschlossenen" zum Bundestag, um den Vorplatz "in eine Gedenkstätte" zu verwandeln. Für die Aktion hatten sie sogar eine Crowdfunding-Kampagne gestartet. Rupert Neudeck, der viele Jahre selbst um eine Öffentlichkeit für die brisante Flüchtlingsproblematik kämpfte, sieht die Provokation eher gelassen. "Die Gesellschaft sollte froh darüber sein, dass sie noch solche Protestpotentiale in sich birgt, mit denen die Künstler ihre Kunst sichtbar machen können."
Heike Mund
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