Pyramide der Erpressung
Inzwischen ist es ja schon eine Binsenweisheit, dass es niemanden gab, der den Arabischen Frühling hat kommen sehen. Dabei ist das Gegenteil wahr. Der Niedergang der autokratischen Regierungssysteme in der arabischen Welt wurde von vielen vorhergesehen und vorhergesagt. Nur der Zeitpunkt wurde nicht vorhergesehen und konnte auch nicht vorhergesagt werden.
So ziemlich jeder Experte, Wissenschaftler und Korrespondent, der sich für einige Zeit in einem der arabischen Polizeistaaten aufgehalten hatte, kam zu dem gleichen Schluss: Dieses System wird sich nicht halten können. Die Araber sagten dasselbe, dafür muss man nur den hervorragenden "Arab Human Development Report" (den Arabischen Bericht zur menschlichen Entwicklung) lesen, jedes Jahr aufs Neue.
Tickende Zeitbomben
Zeitbomben explodieren irgendwann, doch ist das Ticken der Uhr in einem Polizeistaat nicht zu hören. Deshalb weiß auch niemand, wie lange es noch bis zur Detonation dauert. Weder die Ausländer wissen es, noch das Volk im Land, und auch der Diktator selbst weiß es nicht.
Eine wachsende Bevölkerung, ein wachsendes Wohlstandsgefälle, hohe Arbeitslosenraten und stetig steigende Preise für Grundnahrungsmittel: Jeder aufmerksame Beobachter in Ägypten konnte das Ticken vernehmen, aber wann würde die Bombe tatsächlich in die Luft gehen?
Als die Explosion schließlich endlich erfolgte, war jeder überrascht. Dafür muss man sich nur anschauen, wie sehr alle bemüht waren, sich in eine möglichst günstige Position zu bringen: die traditionelle "säkulare" Opposition, die islamistischen Muslimbrüder, das Regime selbst. Selbst einige der am besten informierten in Kairo ansässigen Korrespondenten waren nach Tunesien gereist, als die Revolte in Ägypten begann. Diktaturen sind von Natur aus intransparent und diese Intransparenz ist es teilweise auch, die sie am Leben erhält.
Diese Undurchsichtigkeit existiert bis heute. In den 18 Tagen, die es bis zur Abdankung des Diktators Mubaraks dauerte (nennen Sie ihn bitte nicht einen Präsidenten!), füllte sich der Tahrir-Platz mit bis zu 200.000 Demonstranten.
In einer Stadt von 20 Millionen Einwohnern bedeutet dies aber, dass 90 Prozent der Kairoer Bevölkerung nicht zum Platz gingen. Was dachten sie? Wir wissen es nicht. In Polizeistaaten gibt es keine brauchbaren Umfragen, weil sie entweder gar nicht erst durchgeführt werden oder weil ihre Zuverlässigkeit sehr infrage gestellt werden muss – man muss schon sehr verrückt sein, um seine Abscheu vor dem Diktator offen zu verkünden, gegenüber einem Fremden, der eine Telefonumfrage macht.
In diesen 18 Tagen der Revolte war im ägyptischen Staatsfernsehen kaum anderes zu sehen als Anti-Protest-Propaganda, während das arabische Programm von Al-Jazeera gar keinen Hehl aus seinen Sympathien für die Sache der Demonstranten machte. Es wäre interessant zu erfahren, wie die jeweiligen Einschaltquoten aussahen, also zu wissen, wie viele Ägypter das eine Programm verfolgten und wie viele das andere. Solche Einschaltquoten werden aber nicht veröffentlicht.
So sieht eine Diktatur aus. Und eine Weise, in der sich dieser Aufstand beschreiben lässt, ist, ihn als Versuch der Ägypter zu sehen, sich darüber klarzuwerden, wer sie eigentlich sind – als Individuen ebenso wie als Volk.
Grundlage dafür ist ein rechtstaatliches Gemeinwesen, Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit und all die anderen Rechte, an die wir im Westen uns so gewöhnt haben, dass wir sie gar nicht mehr bemerken, weil sie ein so fester Bestandteil unseres Sicherheitsgefühls und unserer intellektuellen Integrität geworden sind.
Wie soll es weiter gehen? Angesichts der Intransparenz von Diktaturen und Post-Diktaturen wäre es ziemlich vermessen (und dumm), leichtfertige Vorhersagen zu riskieren.
Es mag aber sinnvoll sein, einige der Beschränkungen zu nennen, die den Spielraum jeder demokratischen Alternative definieren werden. Mitte der 1990er Jahre studierte ich an der ansonsten fast nur von Ägyptern besuchten Universität von Kairo und lernte dort zwei Dinge, die sich in den vor uns liegenden Monaten und Jahren als relevant erweisen könnten:
Das erste ist, dass in einem Polizeistaat wie Ägypten die Korruption nicht eine von mehreren Handlungsoptionen ist. Es ist eine Notwendigkeit, ein unausweichlicher Mechanismus zur Alltagsbewältigung.
Einer Dritte-Welt-Regierung wie die Ägyptens fehlt es schlicht am Budget, all ihre Beamten, Richter, Polizisten, Ärzte, Lehrer und Professoren so zu bezahlen, dass sie davon leben könnten. So müssen diese armen Menschen – in beiden Bedeutungen des Wortes – andere Wege finden, ihr Einkommen aufzubessern. Der Lehrer verdient dazu, indem er gute Noten vergibt, der Arzt nimmt Geld für einen besseren Platz auf der Warteliste, der Staatsanwalt, wenn er eine Anklage fallen lässt.
Korruption als System
Man muss sich einmal vorstellen, wie krank eine Welt ist, in der man sein Gewissen verkaufen muss, nur um sein tägliches Brot zu verdienen. Polizisten, die zur Regelung verkehrsreicher Kreuzungen eingesetzt werden, sind angewiesen, Geld von den Autofahrern zu verlangen, Geld, von dem sie dann einen Teil an ihre Vorgesetzten abzugeben haben, die wiederum einen Teil davon ihren Vorgesetzten geben müssen, bis nach ganz oben – eine Pyramide der Erpressung.
Das Problem in armen Polizeistaaten ist nicht, dass das System korrupt ist. Das Problem ist vielmehr, dass die Korruption zum einzigen System geworden ist. Um all dies zu verändern, bedarf es nicht nur eines vollständigen Mentalititätswechsels; es braucht auch eine Regierung, die in der Lage ist, die öffentlichen Bediensteten angemessen zu versorgen, was ihr momentan nicht möglich ist.
Mit einem wirtschaftlichen Wachstum mag sich dieses ändern, doch wird dann die zweite Beschränkung greifen: Entwicklung setzt gut ausgebildete Arbeitskräfte voraus. In den vergangenen Jahrzehnten existierte in Ägypten eine "Bildung" nur in dem Sinne, in dem es auch einen "Präsidenten" und ein "Parlament" besaß. Die Fakultät für Wirtschaft und Politische Wissenschaften, an der ich in Ägypten studierte, galt als renommierteste arabischsprachige Institution des Landes, hier studieren zukünftige Diplomaten.
Doch selbst dort dominierte das Modell eines dumpfen, autoritären Auswendiglernens. Der Professor rezitierte, die Studenten schrieben mit, prägten sich den Stoff ein und gaben ihn in der Prüfung wörtlich wieder. Auch hier regierte die Korruption, gute Professoren mit islamischen Tendenzen wurden kaltgestellt und Studenten mit guten Beziehungen bekamen gute Noten.
An anderen Fakultäten quetschten sich aberhunderte von Studenten in einen Unterrichtsraum und lernten dabei doch kaum etwas Sinnvolles. Das Problem mit einer Generation, die auf diese Weise ausgebildet wurde, ist nicht die Arbeitslosigkeit. Das Problem ist, dass sie sich gar nicht dafür eignen, eine vernünftige Anstellung zu bekommen.
Denkt man zudem noch an die Jahrzehnte währende Kost aus Desinformation, Verschwörungstheorien und Propaganda, von der sie sich ernähren mussten, ist es gar nicht mehr so selbstverständlich, dass demokratische Wahlen auch den Sieg demokratischer Parteien zum Ergebnis haben werden.
Religiöser Diskurs im Keim erstickt
Dieses sind die Beschränkungen, von denen ich sprach. Polizeistaaten fördern Mentalitäten und Geisteshaltungen, die nicht einfach über Nacht verschwinden. Hoffnung aber mag von einer unerwarteten Seite kommen: dem Islam. Eine Tatsache, über die in der Vergangenheit wenig berichtet wurde, ist die unheilige Allianz zwischen der ägyptischen Diktatur mit dem konservativen religiösen Establishment, nicht zu verwechseln mit den Fundamentalisten.
Im Kern ging es dabei um Folgendes: Der Diktator stellt das Deutungsmonopol des traditionellen Klerus nicht in Frage; im Gegenzug forderte dieser Klerus nicht das weltliche Machtmonopol des Diktators heraus.
und eine wahrhaft brutale Verfolgung eines jeden, der sich für eine neue Interpretation des Islam einsetzte. Dies schadete dem Islam umso mehr, als sich in Ägypten auch die weltweit wohl prestigeträchtigste Bildungsinstitution des sunnitischen Islam, die Moschee und Universität Al-Azhar, befindet.
Wenn Ägypten ein System entwickeln sollte, in dem Moscheen und Staat voneinander getrennt sind und Meinungs- und Versammlungsfreiheit garantiert werden, würde dies eine Welle politischer und religiöser Sinnsuche, von Debatten und intellektueller Entwicklung nach sich ziehen.
Eine Wiederentdeckung des Glaubens ist nicht Teil des politischen Programms der Aufständischen, weil es darin doch eher um wirtschaftliche und verfassungsrechtliche Fragen geht. Wahrscheinlich aber wäre es dennoch das Ergebnis, das sich langfristig als das wichtigste und am meisten zu Hoffnung Anlass gebende erweisen könnte.
Joris Luyendijk
© Qantara.de 2011
Joris Luyendijk studierte Arabistik und Politische Wissenschaften in Amsterdam und in Kairo. Mit 27 Jahren ging er als Korrespondent in den Nahen Osten und arbeitete dort für mehrere Medien. Zuletzt erschien sein Buch "Wie im echten Leben. Von Bildern und Lügen in Zeiten des Krieges" 2007 auf Deutsch im Tropen-Verlag Berlin.
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de