Rückkehrer unerwünscht
"Lassen Sie mich unsere wahre Geschichte erzählen", sagt Mohammed Fortia. Als Leiter des Hospitals in Misrata erlebte er den Horror des Krieges an vorderster Front.
"17.000 Soldaten der Regierungsarmee griffen uns von allen Seiten an. Am meisten Angst hatten wir vor den Tawergha, die Vergewaltigung als Kriegstaktik einsetzten. Ein Mann erschoss sogar seine eigene Tochter, nur um sie vor den herannahenden Truppen zu schützen. Können Sie sich seine Verzweiflung ausmalen?"
Wir sitzen in der ungemütlichen Lounge des Technical Hotel, einst Treffpunkt für Geschäftsleute, heute verlassen. Da es den größten Handelshafen des Landes besitzt, war Misrata lange eine Drehscheibe für das westliche Libyen, doch seit 2011 hat sich sehr viel verändert.
Spuren des Krieges
Spuren des Krieges finden sich heute noch überall. Wenige der durch Granateneinschläge beschädigten Gebäude wurden ausgebessert und an praktisch jeder Mauer in der Stadt finden sich Graffiti, in denen die Menschen in Misrata als die revolutionärsten von allen gepriesen und alle anderen herabgesetzt werden.
Die Gewalt, der die Bevölkerung der Stadt ausgesetzt war, wird von niemandem in Zweifel gezogen. Bis zu zweitausend Menschen, der größte Teil von ihnen Zivilisten, starben während der drei Monate andauernden Besatzung und viele andere sind für ihr Leben gezeichnet.
"Einige ertragen es nicht, schwarze Menschen zu sehen", meint Fortia. "Ich sah einen jungen Kämpfer, der einen Wanderarbeiter jagte. Ich sagte ihm: 'Lass ihn gehen. Nicht alle Schwarzen sind Tawergha.'"
Schon vor der Revolution wucherte der Rassismus, doch Gaddafis angebliche Rekrutierung von Schwarzafrikanern als Söldner und die Präsenz dunkelhäutiger Soldaten in seiner Armee verschärften das Problem dramatisch. Nicht einmal von offizieller Seite wird vor solchen Stereotypen zurückgeschreckt.
"Die Tawergha haben sich niemals richtig integriert, da sie ja afrikanischen Ursprungs sind", behauptet etwa Mohammed Dharrat, der die Kriegsopfer von Misrata repräsentiert. "Die Verbrechen, die sie verübt haben, waren schlimmer als alles, was wir jemals gesehen haben, wie etwa das Abschneiden von Genitalien. Es war schlimmer als der Holocaust."
"Tawergha ist in unseren Herzen"
Auch wenn von den Menschen in Misrata das Ausmaß der Verbrechen und der Fälle von Misshandlungen sicherlich übertrieben werden, so zeigt sich doch die Gegenseite nicht weniger unerbittlich. "Tawergha ist in unseren Herzen", betont Hamed, während er in Janzur, einem Vorort von Tripolis, an der Küste des Mittelmeers steht. "Wie die Palästinenser auch, können wir keine andere Option akzeptieren, als in unsere Heimat zurückkehren zu können."
Hinter ihm türmen sich die pyramidenförmigen Gebäude der alten Marine-Akademie, heute Heim für etwa 2.000 Tawergha, die im August 2011 von den Misrata-Brigaden gewaltsam vertrieben wurden. Und dies ist nur eines von etwa einem Dutzend Camps in Libyen.
Im Vergleich zu den anderen kann es noch als gut ausgestattet gelten, sieht man sich etwa die behelfsmäßigen Zelte und Baracken an, die in Tripolis an der Straße zum Flughafen stehen. In Bengasi oder Sebha sieht es nicht anders aus. Und zu diesen schlimmen Zuständen kommt, dass viele von ihnen auch noch mit einer neuerlichen Vertreibung rechnen müssen, da sie sich auf privatem Grund befinden.
Angesichts der Aggression und willkürlichen Festnahmen, denen sie sich gegenübersehen, arbeiten nur sehr wenige von ihnen außerhalb des Lagers. "Als ich heute durch Tripolis fuhr, versuchte die Polizei mich festzunehmen – und das nur aufgrund meiner dunklen Hautfarbe", erzählt Ali Al-Harus, Leiter des Flüchtlingslagers. Seine Gemeinschaft hat aber schon Schlimmeres gesehen: Im letzten Jahr gingen Kämpfer aus Misrata im Lager auf Menschenjagd und töteten Bewohner, darunter auch Kinder.
Grauenvolle Bilder der Opfer werden auf der Ausstellung gezeigt, mit der der Krieg im Camp dokumentiert wird und die dem Betrachter keines der vielen hässlichen Details des Bürgerkrieges erspart. Im letzten Mai wurde aus einem fahrenden Auto auf eine Menge von Tawergha geschossen, die vor dem Parlament demonstrierten. Die meisten Familien sind von staatlichen Bezügen abhängig, die ehemaligen Beamten und Soldaten noch immer ausbezahlt werden. Der Anteil der Frauen und Kinder ist enorm hoch, da viele der Männer noch immer als vermisst gelten.
Von mehr als tausend Personen wird angenommen, dass sie in Misrata unrechtmäßig festgehalten werden. Deshalb ist Human Rights Watch in der "ruhmvollen Rebellenstadt" auch nicht mehr willkommen, seit die Organisation Verbrechen anprangerte, die seit dem Ende der militärischen Auseinandersetzungen verübt wurden.
NATO-Kampfeinsätze als christliche Kreuzzüge
In den Augen vieler Tawergha ist es vor allem der Westen, der für ihr Schicksal verantwortlich ist, da er auf der Seite der Rebellen in den Krieg eingriff. "Anfangs sahen wir die Einsätze der NATO als christlichen Kreuzzug, aber heute denken wir anders darüber", kommentiert einer von ihnen.
Angesichts der vielen gegenseitigen Ressentiments erscheint eine Lösung des Problems in weite Ferne gerückt. Vor einigen Monaten hatten Vertreter der Tawergha eine friedliche Rückkehr in ihre Heimatstadt für den 25. Juni angekündigt. Sie appellierten an das Parlament, sie durch eine offizielle Resolution zu unterstützen, doch blieben ihre Bitten unbeantwortet und Staatsbeamte verstärkten daraufhin sogar noch ihre Strategie der Abschreckung.
"Niemand bestreitet, dass die Tawergha Rechte besitzen, aber eine Rückkehr in ihre Heimatstadt kann nur in Absprache mit allen beteiligten Gruppen erfolgen", lautete die diplomatische, aber letztlich nutzlose Antwort des Premierministers Ali Zeidan. Und Großmufti Al-Ghariani warnte, ein solcher Schritt würde unweigerlich zu neuerlichem Blutvergießen führen. So berechtigt diese Sorge auch sein mag, spielt die Aussage doch den Kämpfern in Misrata in die Hände, da sie es nun als bindende religiöse Aussage ansehen.
In Misrata ist die Antwort unmissverständlich. "Man kann von den Opfern nicht verlangen, dass sie Seite an Seite mit ihren ehemaligen Peinigern leben", betont Dharrat. „Die einzige mögliche Lösung besteht darin, sie andernorts anzusiedeln, und das so weit wir möglich von hier entfernt. Libyen ist groß – soll man ihnen doch einen Platz in Wüste bauen, wo sie hingehören!"
Fortia drückt es weniger brutal aus: "Eine Rückkehr ist unmöglich, solange Libyen nicht stabiler ist und die Kriminellen vor Gericht gebracht wurden. Selbst wenn wir ein offizielles Übereinkommen erreichen, so können wir doch nicht für die Sicherheit der Rückkehrer garantieren. Rachemorde wären nicht zu vermeiden."
Die feindliche Haltung auf den Straßen Misratas ist greifbar. "Wenn ich jemals einen Tawergha sehen sollte, werde ich ihn umbringen", knurrt ein Bewohner eines der Viertel, die am meisten unter den Tawergha zu leiden hatten.
Selbst in der Hauptstadt unterstützen die Menschen diese strikte Ablehnung. "Plünderungen und Morde stehen in einem Krieg ja an der Tagesordnung. Aber Frauen wurden vor den Augen ihrer Männer und Väter vergewaltigt! Lieber Selbstmord begehen, als damit zu leben!", ruft ein gewisser Abdu aus, auch wenn er einräumt, dass die Vertrieben leiden.
"Keine Versöhnung ohne Gerechtigkeit"
Die Tawergha ihrerseits sind bereit, ihre "schwarzen Schafe" auszuliefern, wenn Beweise für ihre Schuld erbracht werden können. Diese Beweise sind aber nur schwer zu bekommen, da die Schuld von den betroffenen Familien oft als kaum zu ertragen empfunden wird. Im Kriegsmuseum von Misrata sind die meisten Gesichter der weiblichen "Märtyrer", die während der Kämpfe getötet wurden, unkenntlich gemacht worden.
"Keine Versöhnung ohne Gerechtigkeit" – so lässt sich die Mehrheitsmeinung im post-revolutionären Libyen zusammenfassen. Aber das Justizsystem funktioniert nicht und offizielle Untersuchungen von Kriegsverbrechen können sich über Jahre hinziehen.
Das Einzige, worin sich beide Seiten einig zu sein scheinen, ist, dass die Verhandlungen auf Gemeinde-Ebene zum Scheitern verurteilt sind. In Misrata ist man davon überzeugt, dass es Sache der Regierung ist, eine dauerhafte Lösung für das Problem ihrer unerwünschten Nachbarn zu finden.
Die Tawergha erwarten nicht mehr viel von den offiziellen Stellen und verweisen auf die Tatsache, dass einstige Führer der Misrata-Brigaden heute Positionen in der Regierung besetzen, was ihnen erlaubt, jede friedliche Einigung zu hintertreiben.
Sogar ihrem eigenen Vertreter im Parlament werfen sie vor, sich nicht ausreichend für ihre Sache einzusetzen. Zwischenzeitlich waren Gerüchte zu vernehmen, dass Kanada bereit sei, 50 Flüchtlingsfamilien Asyl zu gewähren. Wenn dies auch sehr unwahrscheinlich ist, wirft es doch ein grelles Schlaglicht auf das Scheitern der von der Regierung unternommenen Versöhnungsversuche.
Anführer der Tawergha sind inzwischen davon überzeugt, dass die einzige Chance für eine Lösung ihres Problems in der Internationalisierung der Frage liegt. "Nichts wird geschehen, ohne dass die internationale Gemeinschaft Druck auf die Regierung ausübt", sagt Al-Harus und fügt hinzu: "Auch wenn sie es nicht so nennen mögen, geht es um eine Art Vergeltung, die die Tawergha einfordern."
Valerie Stocker
Übersetzung aus dem Englischen von Daniel Kiecol
© Qantara.de 2013
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de