Die Vorreiterin
Rola Sleiman schlägt sich mit ihrem weißen Mercedes durch den Sonntagsverkehr in Tripoli. Es scheint ruhig zu sein auf den Straßen der Stadt, aber die allgegenwärtige Armee in und um Tripoli erinnert an die Gewalt, die hier vor kurzem herrschte. "Letzten Sonntag kamen wir nicht zum Gottesdienst. Demonstranten hatten Molotow-Cocktails vom Dach der Kirche auf die Soldaten geworfen", erzählt Sleiman, während Michael Jacksons "Heal the World" aus den Lautsprechern tönt.
Sleiman ist die einzige offiziell ernannte Pastorin im Libanon - und im gesamten Nahen Osten insgesamt, soweit sie weiß. Seit 2005 ist sie für alle Angelegenheiten der Evangelischen Kirche in Tripoli verantwortlich, die Teil der Nationalen Evangelischen Synode von Syrien und dem Libanon ist. Sie kann die gleichen Aufgaben übernehmen wie alle anderen Pastoren auch – nur die Sakramente, besonders heilige Aufgaben in der Kirche wie Taufe oder Abendmahl, darf sie nicht durchführen.
Obwohl sich Sleiman bewusst ist, dass sie den Weg für andere Frauen ebnet, sagt sie, dass die Aufgabe ihr eher zufällig zufiel. Der Pastor ihrer Kirche ging nach Amerika und so kam die 38-Jährige ins Spiel.
Der Schlüssel zum Erfolg
"Ich hatte Theologie studiert, genau wie er, also beschloss ich, als Übergangspastorin einzuspringen", sagt Sleiman. "Mit der Zeit gewann ich das Vertrauen der Gemeindemitglieder und sie schlugen vor, dass ich ihre offizielle Pastorin werden sollte. Ich glaube, das war der Schlüssel zum Erfolg für meine Ernennung: Die Leute kannten mich persönlich und haben mir vertraut. Dass ich eine Frau bin, war nie ein Problem." Während sie ihre Geschichte erzählt, bereitet die Pastorin in ihrem Büro im Keller der Kirche die Predigt für den nächsten Gottesdienst vor.
Die Wegbereiterin
"Als ich mein Anliegen der Synode vortrug, waren sie ein wenig geschockt, aber die meisten Mitglieder waren stolz, eine weibliche Bewerberin zu sehen. Ich war selbst ein bisschen überwältigt", erzählt die Pastorin.
Sleiman wurde in Tripoli als Tochter eines syrischen Vaters und einer libanesischen Mutter geboren. Sie sagt, sie wusste schon früh, dass sie Gott dienen wollte. "Ich wurde [von Gott] dazu berufen, eine Veränderung herbeizuführen", sagt sie. "Wir haben die Botschaft der Liebe und der Akzeptanz gehört und ich fühlte, dass sie verkündet werden musste und dass das mein Beruf sein sollte."
Bevor sie Pastorin wurde, arbeitete Sleiman acht Jahre lang als Bildungsberaterin in der Bekaa-Ebene im Osten des Libanons. Ihre Familie war über ihren Berufswunsch nicht begeistert. Aber überraschenderweise bekam sie Unterstützung von den Männern in ihrer Familie. "Viele Eltern wünschen sich Sicherheit für ihre Kinder", sagt sie. "Meine Eltern haben nicht verstanden, was ich in diesem Job erreichen kann. Aber mein Vater wurde mein Hauptunterstützer. Und mein Bruder hat mein Interesse an der Theologie geweckt."
In ihrer Gemeinde hat sie viel Rückhalt. "Zuerst haben einige Leute eingewandt, dass sie eine Frau ist, aber wir haben uns entschieden, ihr zu vertrauen und ihr eine Chance gegeben", sagt Jack, ein Kirchgänger. "Jetzt lieben die Menschen sie, weil sie ehrlich ist und sich um die Leute kümmert."
Kirche im Kriegschaos
Heute leitet Sleiman inmitten einer schlechten Sicherheitslage eine Gemeinde mit 33 Familien, die meisten von ihnen Migranten. Tripoli ist die zweitgrößte Stadt im Libanon und liegt nur rund 30 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Seit Beginn des syrischen Bürgerkrieges leiden auch die Bewohner Tripolis unter der wachsenden Gewalt. Autobomben und Kämpfe zwischen Unterstützern und Gegnern des syrischen Assad-Regimes haben hunderte Menschen das Leben gekostet.
Der Konflikt hat das Leben für Sleimans kleine Gemeinde noch härter gemacht, dabei war die christliche Glaubensgemeinschaft schon vorher recht zersplittert. Die Pastorin sagt, dass sie versuchen sich neutral zu verhalten, aber dass die Menschen Angst haben. Ein Gemeindemitglied, eine libanesisch-palästinensische Frau, weigerte sich, ihren Namen zu nennen, als sie gefragt wurde, wie die Gewalt ihr Leben beeinflusst. "Die Menschen haben Angst davor, nach Tripoli zu kommen", sagt sie beim Kaffee mit anderen Kirchgängern im Keller des Gotteshauses.
An diesem Tag sind etwa 20 Menschen in den Gottesdienst gekommen. Das ist eine gute Quote, sagt Sleiman. An Feiertagen sind es etwa 80.
Aufgrund der Gewaltausbrüche zwischen verschiedenen religiösen Gruppen und wegen des kulturellen Schmelztiegel-Charakters der nordlibanesischen Stadt Tripoli widmete Sleiman ihre Predigt dem Thema Versöhnung. Obwohl sie die Unterstützung ihrer Gemeindemitglieder hat, ist sie noch unentschlossen, ob sie sich bewerben soll, zur Pastorin geweiht zu werden.
Sleiman glaubt, dass Veränderung in kleinen Schritten geschehen kann und auf Einigkeit beruhen muss. "Ich strebe nicht nach persönlichem Erfolg", sagt Sleiman. "Ich denke, dass die Generalversammlung und die Ältesten der Kirche meiner Priesterweihe positiv gegenüberstehen. Doch ich bin nicht sicher, ob jeder in unserer libanesischen Gesellschaft so denkt. Falls meine Weihe wirklich in der Kirche zu Spaltungen führen sollte, dann werde ich es nicht tun."
Andreane Williams
© Deutsche Welle 2014
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de