Treibt Gaddafis Gespenster aus!
In den Tagen nach der libyschen Revolution, als ein Volksaufstand Muammar al-Gaddafis zweiundvierzigjährige Herrschaft beendete, war das Land vor Hoffnung wie elektrisiert. Noch nie hatte ich einen Ort erlebt, an dem sich düstere Vorahnung und Optimismus so eindringlich vermischten. Menschen versammelten sich, fest entschlossen, verantwortliche und demokratische Institutionen ins Leben zu rufen. Das ganze weite Land war plötzlich übersät mit Zeitschriften, Clubs, Vereinen, NGOs und Wohltätigkeitsorganisationen. Es zeigte sich die Lebendigkeit einer Gesellschaft, die so lange von Zensur und Gewalt unterdrückt worden war.
Nun starren wir in den Abgrund des Bürgerkrieges. Milizen aus Misrata und Zintan zerreißen Tripolis. Explosionen erschüttern Benghasi. Hinrichtungen und Entführungen sind zur Gewohnheit geworden. Die Regierung steht kurz vor dem Zusammenbruch. Die zwei mit der Revolution aufgestiegenen bewaffneten Gruppen entwickeln sich zu einander bekriegenden Lagern. Eines orientiert sich grob an den Islamisten, das andere unterstützt General Chalifa Haftars "Dignity"-Bewegung. Bildung stagniert. Auf Facebook informierten etliche Schulleiter die Eltern, dass der Schulanfang im September wohl ausfallen wird. Währenddessen erklingt der libysche Akzent in den Cafés und Restaurants von Tunis, Kairo und Istanbul, und örtliche Immobilienmakler werben mit "flexiblen Mietverträgen" für libysche Familien.
Die Libyer begegnen der entfesselten Gewalt mit Fassungslosigkeit. Diskussionen werden mit erhobener Stimme geführt. Viele suchen Trost in den Verschwörungstheorien der Gaddafi-Jahre. Wer das Ende des Gaddafi-Regimes bedauert, übersieht jedoch, dass das aktuelle Chaos direkt aus der vierzigjährigen Unterdrückung entspringt. Der Staat war zu dieser Zeit einzig auf ein Individuum und seine Familie ausgerichtet. Er war von mafiöser, nicht politischer Struktur. Deshalb war das Ende der Diktatur auch das Ende dieses Staates.
Nur die Islamisten konnten als politische Kraft bestehen
In Abwesenheit einer voll funktionsfähigen Nationalarmee, Polizei und anderer Staatsorganisationen ist es unendlich schwierig, eine demokratische Regierung zu bilden. Die Unterdrückung jeglichen Dissenses zu Gaddafis Zeiten hinterlässt auch heute noch ihre Spuren. Das moderne Libyen ist fünfundsechzig Jahre alt. Zweiundvierzig davon wurde es von einer einzelnen Person regiert. Angesichts dessen wird der Aufbau einer politischen Sphäre, die offen ist für Differenz und Pluralität und diese sogar ermutigt, zu einer beträchtlichen Herausforderung.
Viele sind diesem Ziel bereits zum Opfer gefallen. In den siebziger Jahren wurden Intellektuelle und Marxisten verhaftet und gefoltert. In den Achtzigern verloren Fürsprecher neoliberaler Wirtschaft ihr Geld und ihre Freiheit. Für Islamisten bedeuteten die neunziger Jahre Gefängnis oder Tod. Lediglich die Islamisten konnten als vereinte politische Kraft bestehen. Externe Finanzierung und die Kriege in Afghanistan und im Irak erhielten sie am Leben und schulten sie. Ihre extremen Ränder wollen heute die Zukunft bestimmen. Tatsächlich unterscheiden sie sich von Gaddafi. Doch im Umgang mit dem politischen Gegner könnten sie sich nicht einiger sein.
Vor etwa einem Jahr wurde der Menschenrechtsanwalt Abdelsalam al-Mismari vor einer Moschee in Benghasi erschossen. Auf seiner Beerdigung traf Salwa Bugaighis, eine Anwältin, auf Marwan al-Tashani, einen Richter. Al-Tashani hatte den Nachruf auf den Verstorbenen verfasst. "Wie viele Seiten?", fragte ihn Bugaighis. "Zwei", antwortete al-Tashani. Bugaighis war unzufrieden. "Sie hätten mehr schreiben müssen", sagte sie. Lächelnd fügte sie hinzu: "Wer wohl einmal die unseren schreiben wird?" Im Juni, beinahe elf Monate nach dem Mord an al-Mismari, drangen Milizen in Bugaighis’ Haus ein und schossen und stachen mehrfach auf sie ein.
Die Revolution hat Demokratie in greifbare Nähe gerückt
Ihren Nachruf schrieb al-Tashani in Tunesien. Morddrohungen hatten ihn dorthin flüchten lassen. Er teilte den Nachruf auf seinem Facebook-Profil, dessen Banner drei Schwarzweißporträts verstorbener Freunde zeigt: al-Mismari, Bugaighis und Muftah Buzaid, der Journalist und Chefredakteur einer Tageszeitung gewesen war. Drei sprachgewaltige und unermüdliche Verfechter der Menschenrechte, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie waren innerhalb eines Jahres ermordet worden. Träume haben Konsequenzen. Es gibt kein Zurück. Eine Revolution ist kein schmerzloser Marsch zu Freiheit und Gerechtigkeit. Sie ist auch eine qualvolle Antwort auf die Vergangenheit, auf alles, was geschehen ist, auf erinnerte und vergessene Ungerechtigkeit. Das Gedächtnis einer Revolution reicht viel weiter zurück als das ihrer Protagonisten.
Gaddafi hat ideale Bedingungen für eine intolerante und brutale Politik geschaffen. Nur mühsam werden die alten Wunden heilen und sich die Gewohnheiten ändern. Eines ist jedoch sicher: Nie waren die Entschlossenheit und Zielstrebigkeit in der Bevölkerung größer. Die Revolution hat Demokratie und Selbstbestimmung in greifbare Nähe gerückt. Die jüngsten Rückschläge nähren die Angst, dies könne zerschlagen werden. Noch ist es aber nicht so weit.
Ein Freund, der nach der Revolution nach Libyen zurückgekehrt war und dort eine Wohltätigkeitsorganisation gegründet hatte, machte sich vor einigen Wochen auf den Weg zur Bank, um Geld für das nächste Quartal abzuheben. Beim Losfahren bemerkte er, dass er verfolgt wurde. Er versuchte sich abzusetzen. Als er vor seinem Haus parkte, tauchte das fremde Auto wieder auf. Ein Mann stieg aus, hielt meinem Freund eine Pistole vor den Kopf und nahm das Geld. Mein Freund kehrte daraufhin zu seiner Wohnung im Exil zurück, um, wie ich zunächst vermutete, wieder im Ausland zu leben. Aber er packte dort nur seine Habseligkeiten zusammen. "Das ist meine Art, nach dem Überfall wieder aufzustehen", sagte er mir. "Ich mache einfach weiter."
Hisham Matar
© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2014
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de