Irrtümer in der Berichterstattung
"Ich habe dieses Land aufgebaut und ich werde es auch sein, der es zerstört." Die einstigen Worte des libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi erhalten in diesen Tagen eine sehr beklemmende Dimension. Noch vor wenigen Monaten hätte man Gaddafi, der seit seinem Militärputsch im Jahre 1969 das Land mit eiserner Hand regiert, für diese größenwahnsinnige Aussage belächelt.
Obwohl nur wenige Flugstunden von Europa entfernt, bleibt Libyen für die meisten eher ein unbekanntes Land. Umso wichtiger ist in der aktuellen Situation der sorgfältige Umgang mit Informationen, denn durch ständige Wiederholung werden Fehlinformationen nicht zur Wahrheit.
"Libyen ist ausschließlich ein Land von Volksstämmen"
Gerne analysieren internationale Medien die Situation in Libyen mit einer allumfassenden Stammestheorie. Auch bei etlichen Wissenschaftlern kursiert das "Stammessyndrom", um die Entwicklungen in einem Land, das viele nur aus der Theorie kennen, aus der Ferne zu analysieren.
Zwar gibt es in Libyen Volksstämme, doch die wenigsten von ihnen ziehen mit Zelt und Kamel als Nomaden durch das Land. Es sind nicht die Stammesführer, die das Vorgehen der jungen Demokratiebewegung steuern. Die Touareg im Süden des Landes und der angrenzenden Nachbarstaaten nehmen eine komplexe Sonderposition ein und sind nur bedingt geeignet, um die Geschehnisse im Land zu erläutern.
Es gibt in Libyen große, sehr wichtige Familienclans, die ihren Zusammenhalt durch eine gemeinsame Abstammung definieren, aber auch Dynastien, die durch ihre regionale Herkunft Geschlossenheit demonstrieren. Sie alleine prägen zurzeit aber nicht die Revolte.
"Libyen könnte nach dem Sturz des Gaddafi-Regimes islamistisch werden"
Ebenso wenig sind es die gefürchteten Al Qaida-Terroristen, die von Benghasi aus den Sturz des Regimes forcieren. Gaddafi nutzt die sehr angespannte, von Terrorfurcht geprägte, pauschale Islamfeindlichkeit des Westens und die Argumentation, dass hinter allen Unruhen Al Qaida stecke, für seine Zwecke überaus geschickt aus. Gaddafi inszeniert ein Terrorszenario in Libyen und schürt damit Ängste im Westen, die, zumindest was Libyen angeht, ohne Grundlage sind.
Die junge Generation Libyens, gerne als "Facebook - und Twitter-Generation" bezeichnet, wünscht sich Demokratie, Meinungs- und Pressefreiheit, ein selbstbestimmtes Leben in Frieden und Freiheit. Eine gute Ausbildung, die Achtung der Menschenrechte und Recht auf Eigentum. Kurzum: Sie streben nach einem Leben mit den gleichen Idealen, die die westliche Welt hochhält.
"Gaddafi's Sohn Saif al-Islam gilt als Reformer Libyens"
Saif al-Islam, geboren 1972, gilt als "the brain" unter den Söhnen Gaddafis und sieht sich selbst gern in der Rolle des reformorientierten Sohnes, der allerdings stets von seinem Vater ausgebremst wird.
Es ist längst kein Geheimnis mehr, dass Saif al-Islam sich gerne im Ausland aufhielt und amüsierte, insbesondere mit Wohnsitz in seinem Studienland Österreich, in der Karibik oder in seiner mondänen Villa in London, wo er an der renommierten London School of Economics seine Promotion abschloss. Die Familie Gaddafi hat die Universität mit großzügigen Spenden bedacht, doch angesichts der blutigen Ereignisse in Libyen sah sich der Direktor dieser Institution, Howard Davies, gezwungen, seinen Rücktritt bekannt zu geben. Nun stehen zusätzlich Plagiatsvorwürfe bezüglich Saif al-Islams Doktorarbeit im Raum, die zurzeit geprüft werden.
Spätestens seit seinen Auftritten im libyschen Staatsfernsehen, in denen er den militärischen Einsatz gegen die Protestierenden rechtfertigte, dürfte Saif al-Islam seine angebliche Reformorientiertheit ad absurdum geführt haben.
"Libyen befindet sich in einem Bürgerkrieg"
"Warum werden wir in den Medien als Rebellen, Aufständische oder aufsässige Bevölkerungsgruppen beschrieben? Wir wollen doch nur ohne Gaddafi leben", fragt eine junge Libyerin auf Malta. Sie habe drei kleine Kinder und sah es als Pflicht das Land zu verlassen, zum Schutz ihrer Kinder. Anfangs sei sie in Benghazi noch zum Demonstrieren auf die Straße gegangen, aber die Gewalt sei schnell eskaliert.
"Wir haben friedlich demonstriert und wurden kaltblütig erschossen und bombardiert - jetzt wehren wir uns mit unseren bescheidenen Mitteln. Warum werden in den Medien Tatsachen verdreht? Wo ist die EU, die UN, die NATO - warum ist die Welt so zögerlich, wenn es um Gaddafi geht?", fragt sie.
Was derzeit in Libyen geschieht, ist kein Bürgerkrieg innerhalb der libyschen Bevölkerung. Es ist ein ungleicher Kampf: David gegen Goliath. Gaddafis Truppen bombardieren die Zivilbevölkerung aus der Luft sowie von Schiffen. Elite-Bodentruppen, ausgerüstet mit den neuesten Hightech-Waffen, und bezahlte schwarzafrikanische Söldner erschießen jeden, der ihnen über den Weg läuft. Die verhasste Regierung führt Krieg gegen das eigene Volk - ohne Rücksicht auf Verluste.
"In der Hauptstadt Tripolis ist alles ruhig"
Immer wieder erscheint diese Meldung und auch Interviewpartner aus der libyschen Hauptstadt bestätigen dies, allerdings hat diese bedrohliche "Ruhe" einen traurigen Hintergrund: Todesangst prägt inzwischen den Alltag der Libyer in Tripolis.
"Inzwischen traut sich niemand mehr aus dem Haus, alle Straßen werden von den afrikanischen Söldnern und Gaddafi-treuen Militärs und Milizen bewacht. In jedem Hauseingang, auf jedem Dach überwachen schwer Bewaffnete in Militärkleidung jedes Viertel. Stehen mehr als drei Personen zusammen, wird sofort geschossen", schildert ein Augenzeuge aus Tripolis.
Die Herrschaft Gaddafis bedeutet für die Mehrheit der Libyer vor allem Angst, eine tief sitzende, lähmende Angst, die Hilflosigkeit, Ohnmacht und Resignation bewirkt.
Magda Luthay
© Qantara.de 2011
Redaktion: Nimet Seker/Qantara.de
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