Kampf der Ideen mit der Orthodoxie
In Frankreich gehört Malek Chebel zu den bekanntesten arabischen Intellektuellen. In seinem jüngsten Buch "L'Islam et la Raison"(Der Islam und die Vernunft) widmet er sich zum wiederholten Male der Vereinbarkeit des Islam mit der Moderne. Susan Javad hat es gelesen.
Auch beim deutschen Lesepublikum hat sich Malek Chebel in den neunziger Jahren mit seiner Enzyklopädie "Die Welt der Liebe im Islam" (Kunstmann Antje) und dem Kunstband "Symbole des Islam" (Brandstätter) einen bescheidenen Namen gemacht.
In seiner Wahlheimat Frankreich veröffentlicht er jedoch mit eiserner Regelmäßigkeit mindestens ein Buch pro Jahr und oszilliert dabei zwischen seinen zwei Spezialthemen: der Liebe und Sexualität im Islam und der Erörterung der Frage nach der Vereinbarkeit von Islam und Moderne.
In diesen Schaffensbereich reiht sich "L'Islam et la Raison" ein und beantwortet die Frage, ob ein "moderner Islam" möglich sei, mit einem eindeutigen "eigentlich ja".
Reformpotenzial
Chebel hat es sich in seinem neuesten Buch zu diesem Thema zur Aufgabe gemacht, die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Sternstunden der islamischen Geistesgeschichte zu lenken. In dieser Art möchte der Autor das seiner Meinung nach dem Islam von jeher innewohnende Potenzial zur Reform aufzeigen.
Bereits in der ersten Zeile seiner Einleitung heißt es dann auch: "Die Idee dieses Buches ist simpel: die islamische Geschichte bewahrt die Erinnerung an innovative, rebellische und intelligente Erfahrungen, die Wege eröffnet haben und Wegmarkierungen gesetzt haben. Aber wer erinnert sich noch an diese Vergangenheit?"
Den Grund für dieses Vergessen legt uns Chebel in zehn kurzen Kapiteln dar, in denen er die rund 1400 Jahre islamische Geschichte Revue passieren lässt.
Er beginnt seine Ausführungen - ganz klassisch - mit dem Tod des Propheten und den sich hieran anschließenden Auseinandersetzungen um seine Nachfolge. Bereits die Einigung auf Abu Bakr, den ersten der "rechtgeleiteten Kalifen" (632-634 n.Chr.) identifiziert Chebel als weichenstellenden Moment für alle weiteren Entwicklungen. Mit dem Kalifat Abu Bakrs, so Chebel, gewinnt der "Islam als Doktrin" die Oberhand über den "spontanen Islam" der Anfangsphase.
"Kampf der Ideen"
Die islamische Orthodoxie, die sich in den Folgejahren zu entwickeln beginnt, ist für Chebel die Wurzel aller Probleme, mit denen Muslime heute zu kämpfen haben, zementiert sie doch das Verhältnis zwischen dem Menschen und dem Glauben als "rigorose Mentalität, begründet auf dem Verbot."
Die Orthodoxie, so fährt er fort, verbiete den freien Diskurs, definiere das Dogma und dulde keine Abweichungen. Damit entziehe sie dem einzelnen Gläubigen die Berechtigung, selbst zu Denken und frei zu wählen.
Malek Chebel:
«Heute existiert der Geist von Cordoba nicht mehr. Er ist anderswo. Vielleicht in Paris oder Brüssel, in New York, in Berlin (…)»Chebel stellt diesem monolithischen Verständnis von Religion verschiedene Strömungen aus der islamischen Geistesgeschichte gegenüber, deren Grundsätze das herrschende Dogma in Frage gestellt haben. Diese sieht er über die Jahrhunderte in einen "Kampf der Ideen" mit der Orthodoxie begriffen.
Die rationalistische Denkschule der "mua'tazila" des 8. und 9. Jahrhunderts ist ein von ihm angeführtes Beispiel. Ebenso geht er auf die arabische Hochkultur Andalusiens ein, dessen gelebte Toleranz zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen - Muslimen, Juden, Christen – als eines der nobelsten Kapitel der islamischen Geschichte aufleuchten.
Doch, so stellt er im Anschluss an diese Schilderungen fest: "Heute existiert der Geist von Cordoba nicht mehr. Er ist anderswo. Vielleicht in Paris oder Brüssel, in New York, in Berlin (…). Heute hat der Geist von Cordoba, seine berühmte Toleranz, das Lager gewechselt."
Ausgetretene Wege
Der gebürtige Algerier Chebel, der selbst seit über 25 Jahren in Frankreich lebt, kommt damit zum Hauptanliegen seines Buches und seines gesamten Schaffens. Der Islam, so schreibt er, muss sich reformieren, "alle sind sich darüber einig – aber er kann es nicht ohne die Hilfe und die Solidarität des Westens." Wie diese Hilfe konkret aussehen soll, bleibt Chebel dem Leser jedoch schuldig.
Deutlich wird bei der Lektüre, dass er sein eigenes Buch als Hilfestellung für diesen notwendigen Reformprozess versteht. Auf knapp 150 Seiten Text gibt er deshalb in einem Rundumschlag einen Überblick über die verschiedenen Denkansätze der islamischen Geistesgeschichte, von denen er glaubt, sie könnten Anknüpfungspunkte für heutige Reformbemühungen bieten.
Leider verlässt er bei diesem Unterfangen aber nicht die bereits zur Genüge ausgetretenen Wege.
Der Geist Andalusiens, die Denkschule der "mua'tazila" oder auch der Sufismus werden immer dann bemüht, wenn man die "andere" Seite des Islam aufzeigen möchte. Um diesen in der Tat interessanten Aspekten des Islam aber auch neue Einsichten abgewinnen zu können, ist eine sehr viel tiefer reichende Analyse erforderlich als sie Chebel in seinem Buch bieten kann.
Lobend hervorzuheben sind dagegen die Überblicksbiographien der Protagonisten der islamischen Ideendebatte am Ende des Buches, die einen ersten Einstieg in die Thematik sicher erleichtern können.
Dennoch bleibt am Ende der Lektüre ein unbefriedigender Nachgeschmack zurück. Chebels Empfehlung, der Islam von heute müsse an seinen Sternstunden anknüpfen und seine Egozentrik und Nostalgie gegen ein größeres Maß an Realismus eintauschen, erinnert an Bassam Tibis Ausrufung des Euro-Islam. Es bleibt fraglich, inwieweit er damit zu seiner eigentlichen "Zielgruppe" durchdringt.
Und so hat man, wenn Malek Chebel in seinem Schlusskapitel fragt: "Welcher Islam also für morgen?", das unbestimmte Gefühl, dass er es leider auch nicht weiß.
Susan Javad
© Qantara.de 2006
Malek Chebel: L'Islam et la Raison. Le combat des Idées. 2006 (Perrin), 238 Seiten.
Qantara.de
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