Wo Damaskus durchatmet

Ich verließ Syrien, wie so viele andere, um der Festnahme zu entgehen. Kurz zuvor besuchte ich ein letztes Mal den Berg Qasyun und verabschiedete mich dort von meinen Freund:innen, meiner Exfreundin und ein paar Kommiliton:innen. Der Weg war kompliziert: Das Militär hatte mehrere Checkpoints errichtet und ich war gezwungen, zu Fuß durch die angrenzenden Viertel zu gehen.
Von den Aussichtspunkten dieses Berges schweift dein Blick über die Stadt, so nah, dass du die Viertel und Sehenswürdigkeiten erkennen kannst. Das Beisammensein, die Aussicht, das Gefühl, der Stadt nah und gleichzeitig fern zu sein – das alles machte diesen Ort für uns junge Leute damals so besonders: Er war ein Treffpunkt für alle, die sich sonst nicht treffen konnten; für alle ethnischen und konfessionellen Gruppen dieses vielfältigen Landes und für jedes Alter.
Doch während der syrischen Revolution verwandelte sich der Berg nach und nach in militärisches Sperrgebiet, für das Volk verschlossen. Er wurde zum Stützpunkt, zur Kaserne und zur Produktionsstätte der berüchtigten Fassbomben, die das Regime, so grausam wie kostengünstig, in seinem Krieg gegen bewaffnete Gruppen einsetzte. Vom Qasyun aus war es leicht, oppositionelle Viertel zu treffen. Der Berg, einst Teil der Damaszener Schönheit und Schauplatz von Legenden, Poesie und Erzählungen, wurde zum Symbol der Herrschaft über die Stadt und ihrer Zerstörung.

Ahmad al-Scharaa und der globale Dschihad
Dschihadistische Gruppen weltweit beobachten Syriens Übergangsregierung genau. Al-Scharaas Machtübernahme und moderate Strategie inspirieren die einen. Andere werten seinen Pragmatismus als Verrat und entscheiden sich für Gewalt.
Was uns der Berg bedeutet
Meine erste Erinnerung an den Qasyun stammt aus einer Geschichten-Serie für Kinder über die Propheten. Kurze Erzählungen, auf dünnem gelbem Papier gedruckt. Jede Woche habe ich mein Taschengeld dafür hingelegt, in der fünften Klasse, da war ich etwa zehn Jahre alt.
Eine dieser Geschichten erzählte von Adam. Auf der letzten Seite stand geschrieben, dass Kain, der Sohn Adams, seinen Bruder Abel am Qasyun-Berg erschlug. Und dass der Felsbrocken, mit dem er ihn tötete, bis heute um ihn weint. Die Geschichte diente eher der Unterhaltung als der religiösen Bildung. Die Legenden bringen den Qasyun immer wieder mit Propheten und Mystikern in Verbindung, was ihm in der Gesellschaft einen hohen religiösen Wert verleiht.
Im neunzehnten Jahrhundert ließen sich Eingewanderte aus dem Kaukasus, dem Balkan und anderen Gegenden dort nieder. Auf kreative Weise trennte man diese Flüchtlinge von den alteingesessenen Damaszenern, zum Beispiel durch die Anlage von Gärten. Mit der Zeit wurde dieses Viertel zu den teuersten der Hauptstadt.
Doch die zentrale Stellung des Qasyun in der syrischen Kultur beruht nicht nur auf den Legenden und seiner politischen Bedeutung. Die größte Kraft dieses Berges ist der Freiraum, den er bietet. Er war für alle Teile der Gesellschaft zugänglich, ein Ort zum Atmen, der einzige in der Stadt.
Damaskus hat wenige Parks, öffentliche Orte und Grünanlagen. Lange war der Qasyun ein beliebtes Ausflugsziel für arme wie reiche Familien, die dem staubigen, lärmenden Damaskus entkommen wollten. Zu Zeiten des Assad-Regimes bot der Blick auf die Stadt für viele die einzige Gelegenheit, sich „erhaben“ zu fühlen statt erniedrigt. Doch nach der Revolution 2011 wurde der Zugang gesperrt – und der Qasyun zum Feind der Syrer:innen.
Damit machte das Regime nicht einfach öffentlichen Raum unzugänglich, sondern auch einen Ort für Intimität und Privatsphäre. Für Liebespaare, die sich hier der Kontrolle einer strengen Gesellschaft entzogen, und für politisch interessierte Menschen, die sich hier trafen, um jenseits der Überwachung durch die Sicherheitsorgane über Politik zu diskutieren. An anderen Orten brauchte es dafür eine Genehmigung der Geheimdienste.
Dieser Berg, der die Legenden der Propheten in sich trägt, von Adam über Abraham bis Moses hin zu Gelehrten und Mystikern, bot den Menschen Privatsphäre, beschützte sie vor der Gesellschaft und dem Staat. Für uns bedeutete ein Besuch auf dem Qasyun beides: zu entdecken und zu verbergen. Er bot Raum für die Privatsphäre eines Kusses, oder eines Gedankens.
Er hieß mich nach all den Jahren willkommen
Nach dem Sturz des Regimes im Dezember bin ich nach Syrien zurückgekehrt. Zwölf Jahre lang war ein solcher Besuch undenkbar gewesen. Ein paar Tage nach meiner Ankunft fragte meine Mutter, ob ich das Tadamon-Viertel sehen wolle, in dem wir früher gewohnt hatten. Unsere Häuser dort verfallen, in Tadamon fanden einige der schlimmsten Massaker des alten Regimes und seiner Verbündeten statt.
Ich fühlte mich unwohl, willigte aber ein. Meine Mutter packte Getränke, Süßigkeiten und Obst, als würden wir ein Picknick machen. Schnell drehten wir eine Runde durch die Ruinen der Häuser und Läden, sahen uns die Zerstörung an und die Hunde, die das Viertel von den Geflohenen und Getöteten geerbt hatten. Dann legte mein Vater Gute-Laune-Musik auf und sang, meine Mutter und mein Bruder stimmten mit ein. So fuhren wir Richtung Qasyun.
Ich konnte diese Gleichgültigkeit gegenüber den Morden und der Zerstörung nicht verstehen, als wäre es etwas, das eben passiert, unausweichlich. Hier und dort zeigten sie hin, erklärten mir die Massaker und Verluste, als wären wir im Museum, nach dessen Besuch man eben zum Qasyun ging, zu dem Berg, der nun nach dem Sturz des Regimes wieder zugänglich war.

Zugänglich auch als Zufluchstsort, vor der Erinnerung, dem Tod, dem Verlust. Und mehr als das: Der Qasyun ist der einzige Ort in Damaskus, an dem man saubere Luft atmen kann. Denn die Luft in der Stadt ist durch Diesel, Benzin und den minderwertigen Treibstoff, der mangels Stroms überall verwendet wird, voll von Staub und giftigem Gestank.
Die Straße zum Gipfel war komplett verstopft und trotzdem waren alle glücklich. Die Hupen der Autos, im Damaszener Verkehrschaos niemals stumm, wurden auf dem Weg zum Berg zu einem Konzert. Alle öffneten die Fenster, ihr Hupen und die Musik wechselten sich ab. Eine kindliche Freude breitete sich aus, die vom Morgen nichts wissen will. Der gemeinsame Freiraum war wieder zum Leben erwacht.

Getarnte Geopolitik
Sowohl Syriens neues Regime als auch Israel nutzen ethnische und religiöse Identitäten, um ihre politischen Ziele durchzusetzen. Die jüngsten Massaker in Suwaida mit über tausend Toten machen dies auf brutale Weise deutlich.
Bleibt der Berg ein Ort für alle?
Doch mit dem gleichen Enthusiasmus kündigte die syrische Übergangsregierung schnell umfassende Maßnahmen zur Verbesserung an: Straßen, Parkplätze und Sitzbänke sollten jetzt gebaut und der Berg bewaldet werden, damit er wieder ein Ort für die Bewohner:innen der Stadt werde.
Allerdings dient er gleichzeitig auch als Ort der politischen Herrschaft, denn hier will Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa seine Gäste empfangen, Offizielle, Investor:innen und ausländische Politiker:innen interessieren sich für den Berg. Auch wenn dies an sich nicht bedrohlich ist, wächst doch die Angst vor einer erneuten Vereinnahmung des Raums – sei es durch politische Instrumentalisierung oder durch eine Nutzung, die nicht dem Gemeinwohl dient.
Viele Monate sind seit dem Sturz des Assad-Regimes vergangen, die regierende Klasse hat gewechselt. Und doch scheint es politische Praktiken zu geben, die sich nicht geändert haben. Neue Investitionspläne sind publik geworden, die den Qasyun-Berg zu einem Tourismusort machen sollen, mit allem, was dazu gehört: Einkaufszentren und ein Hotel.
Das schürt die Angst, nicht nur bei Gegner:innen des neuen Regimes, sondern bei den Damaszenern allgemein. Dieser Freiraum war gleichermaßen offen für alle Gruppen der syrischen Gesellschaft und ist quasi der einzige Ort zum Durchatmen, für Einwohner:innen, Liebende und neue Oppositionelle. Nun droht er zu einem Ort wie jeder andere zu werden: reserviert für jene mit Geld und Macht.

Eine solche politische Praxis nimmt das Volk in die Verantwortung, sie muss die neue Regierung über die nicht durchdachten Entscheidungen aufklären. Blinde Investitionen und Projekte stellen wegen der Instabilität des Berges eine Gefahr für ganz Damaskus dar. Es gibt Studien, die davor warnen, dass es durch übermäßige Bebauung dazu kommen könnte, dass ganze Hänge des Qasyun abrutschen.
Wenn Politiker, die nicht viel über die Geschichte der Gegend wissen, nun eher auf Investor:innen als auf die Bevölkerung hören, muss Letztere diese Politiker sensibilisieren. Doch die Leute sind erschöpft, finanziell wie psychisch, und dringend auf diesen Ort zum Durchatmen angewiesen, den sie gerade erst wiedergewonnen haben.
Meine Mutter beispielsweise braucht dort keine riesige Moschee, um zu beten. Sie kann es einfach am Hang des Berges tun, im öffentlichen Raum. Und die Damaszener brauchen kein Fünf-Sterne-Hotel, das keiner von ihnen je betreten wird.
Was sie brauchen, sind ihre Freiräume. Orte, die für alle offen sind und es bleiben, damit die Damaszener auf ihre halb zerstörte Stadt blicken und beobachten können, wie das Leben in sie zurückkehrt. So wie meine Mutter ihre Pflanzen beobachtet, wenn sie nach einer Dürre wieder zum Leben erwachen.
Dieser Text ist eine bearbeitete Übersetzung des arabischen Originals. Aus dem Arabischen von Leonie Nückell.
© Qantara.de