Schimären von Licht und Schatten
Mansoura Ez-Eldins Roman "Shadow Specters" erinnert mich an eine sehr verbreitete Erfahrung, die wir alle irgendwann einmal gemacht haben: das Erwachen in einem dunklen Zimmer. Zuerst können wir in der Dunkelheit kaum etwas erkennen, bis sich auf einmal vage Umrisse, schemenhafte Konturen vom Hintergrund abheben.
Sie lösen sich aus dem Dunkel, undeutlich, bizarr, und nicht selten sorgt unser Wahrnehmungsbewusstsein dafür, dass wir sie für etwas anderes halten, als sie sind, weil sie ihre Form lediglich der geringen Lichtmenge verdanken, die sie absorbieren. Solche Schimären, entstanden aus dem Spiel von Licht und Schatten, Hell und Dunkel, finden sich in Mansoura Ez-Eldins Roman in der Grauzone zwischen Form und Inhalt.
Der Roman ist eine "sehr komplizierte Geschichte" (so eine der Kapitelüberschriften), die in Prag mit dem Gespräche zweier Personen – zweier Künstler – auf einer Bank vor dem Kafka-Museum beginnt und endet. Dieses Gespräch wird zahlreiche Erinnerungssequenzen, eine Vielzahl von Farben, Geräuschen, Gerüchen, Geschichten und Nebenhandlungen "triggern", Fragen nach der künstlerischen Kreativität aufwerfen und andeutungsweise das intellektuelle Porträt des Künstlers skizzieren, genauer gesagt, das Porträt einer Schriftstellerin.
Entlang der porösen Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit
"Ich schreibe, weil ich danach trachte, ganz zu werden", sagt eine der weiblichen Figuren. Shakespeares Formel aus Ein Sommernachtstraum wird hier auf einen Roman angewendet: des Dichters Feder gibt unbekannten Dingen Form, in dem er sie benennt; anders ausgedrückt, "das luft'ge Nichts" oder das "Prinzip der Leere" (nach Laotse) wird in die angemessene ästhetische Form gegossen.
Die ästhetische Form des Romans entsteht durch das Verhältnis von Licht und Schatten, entlang der porösen Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit, Fiktion und Fakt. Folglich gibt es keine klaren Konturen, denn die Form zieht eine gewisse Menge Licht auf sich und definiert sich selbst. So entsteht der "Zugriff" des Subjekts auf die Realität.
Doch es geht nicht um einen bestimmten Rezipienten der Wirklichkeit, es geht um eine Person, deren Wahrnehmung "ästhetisch angemessen" ist. Gleichzeitig ist die künstlerische Wahrnehmung ein kreativer Prozess, weil sie auf einer formgebenden Wahrnehmung basiert. Die auf Wissen begründete Bewältigung der Realität, oder, besser gesagt, das Ordnen des Chaos alltäglicher Eindrücke, ist zugleich ein kreativer Prozess.
"Shadow Specters" ist ein verspieltes, experimentelles Buch, das sich jedoch von der Avantgarde und von postmodernen Texten abgrenzt. Für Erzählforscher ist es eine wahre Fundgrube. Obwohl das Buch als Roman gehandelt wird, könnte es mit seiner dezidiert poetischen Prosa auch als Short-Story-Sammlung durchgehen. Die Erzählerin führt uns in die Geschichte ein und "schließt einen Pakt" mit dem Leser. Durch das Stilmittel der erlebten Rede erhalten wir prägnante Einblicke in den Ort und das Geschehen, aber auch das Bewusstsein der Charaktere.
Kunst eröffnet eine neuen Dimension von Wirklichkeit, das heißt, in diesem Schattenspiel offenbaren sich, in einem Bereich zwischen Wachzustand und Traum, unterschiedliche Erscheinungsformen der Realität. Literatur stellt die verschiedenen Ebenen der Realität dar und enthüllt ihre tiefer liegenden und verschwiegenen Strukturen, wie Mansoura Ez-Eldin in einem ihrer Interviews sagte. Das ist der eigentliche Kern des Romans.
Diverse Erzählstränge in einem traumartigen, mystischen Raum
Zu Anfang habe ich den Roman mit einem Erlebnis verglichen, das jeder von uns kennt. Der Grund dafür ist nicht ein rein subjektiver Eindruck, sondern das im Roman deutlich sichtbare Gewebe aus verschiedenen Erzählsträngen in einem traumartigen, mystischen und anthropologischen Raum, wobei Träume zuweilen wie eingebettete Erzählungen wirken oder sich gar in den Rang von Mythen erheben.
Die Grenze zwischen Traum und Realität ist im Roman nicht scharf gezogen, so wie es ja auch zwischen Licht und Schatten keine klare Grenze gibt. So kommt es beispielsweise vor, dass eine in die Erzählung eingefügte Geschichte von einer Erinnerung oder Assoziation der schreibenden Person unterbrochen wird und in einen anderen Erzählstrom einfließt. Die Grenze zwischen Realem und Irrealem schwimmt, wie dies auch in Wirklichkeit der Fall ist.
Doch genau das kennzeichnet die Beziehung zwischen Kunst und Leben: Spielt es wirklich eine Rolle, ob etwas real ist oder nicht, wenn sein Wert als real betrachtet wird? Aus diesem Grund ist "Shadow Specters" ein Roman über die Entstehung und Anatomie des Schreibens und Lesens. Die unklare Grenze zwischen Phantasie und Realität bestimmt die Struktur des Romans. Deshalb ist es wichtig, die Struktur des Romans im Kontext der Erzähltheorie zu betrachten.
Die Erzählerin ist einerseits Teil der Erzählung, andererseits nimmt sie eine allwissende und allgegenwärtige Position in Bezug auf die Erzählung und das Bewusstsein der Figuren ein, womit sie alle Regeln bricht und die mise-en-scène nach Belieben außer Kraft setzt. Die Erzählerin kümmert sich, kurz gesagt, nicht um die Regeln des Erzählens und zeigt damit deutlich, dass sie in die Welt des Romans gehört und gleichzeitig in die Welt des Lesers.
Die Erzähl-Stafette mäandert durch den Roman, und mit der Zeit können wir nicht mehr feststellen, wer die Erzählstimme ist, wer genau da schreibt und/oder liest. Ich habe oft das Gefühl, dass ich keine Frau aus Fleisch und Blut bin, sondern ein Gedanke, der einer Schriftstellerin einfiel, sagt eine von Ez-Eldins Protagonisten. Dieses Paradox des narrativen Status verwandelt die Erzählung in eine Meta-Erzählung und den Roman selbst in einen Roman über einen Roman.
Labyrinthische Romanstruktur
Sollte ich die Struktur des Romans in einer Metapher fassen, so würde ich das Bild des Unendlichkeitssymbols oder, noch besser, der Möbiusschleife wählen. Wie die Möbiusschleife repräsentiert "Shadow Specters" einen Raum, der die Orientierung erschwert, in dem der physische in den seelischen Raum übergeht und umgekehrt, in dem Erinnerungen in Träume einfließen und Träume manchmal irrtümlich für Erinnerungen gehalten werden, in dem der Erzähler zur literarischen Gestalt und die literarische Figur zu einem Gedanken wird, der dem Gehirn einer Schriftstellerin entspringt: eine Frau träumt davon, eine Rose zu sein oder eine Rose träumt davon, eine Frau zu sein. In diesem Raum existieren Wesen durch ihre eigene Negation – Schatten existiert dank des Lichts, der Kosmos dank des Chaos.
Mit seiner labyrinthischen Struktur hat Shadow Specters große Ähnlichkeiten mit dem Roman Alice im Wunderland. Bei Mansoura Ez-Eldin springt der Leser jedoch nicht in einen Kaninchenbau, sondern in die Gedankenwelt der Schriftstellerin, wie in einen tiefen Brunnen, und hinter dem Spiegel wird, wie auf der anderen Seite der Wirklichkeit, die Protagonistin der Geschichte zur Autorin und die Erzählerin "verfängt" sich im Gewebe der Imagination.
Gleichzeitig ist der Roman reich an intertextuellen Bezügen, er verweist nicht nur auf Lewis Carroll und seine Alice, sondern auch auf Kafka, vor allem da, wo von Metamorphosen und wechselnde Identitäten die Rede ist. Diesen Aspekt könnte man durchaus als eigenständiges Thema abhandeln, hier möchte ich nur noch auf einen weiteren intertextuellen Bezug hinweisen, und zwar auf eine stilistische Besonderheit.
Phantasierte Ganzheit
Erkennbar ist eine Art literarischer Impressionismus à la Proust und eine phänomenologische Sicht der Welt als breites Spektrum an Farben, Klängen, Musik, Gerüchen und Geschmackseindrücken. Der bittersüße Geschmack von Schweppes, das Türkisblau des Himmels, der Duft von Zitronen oder Oleander sind nur einige der Motive, die den Strom der Erinnerungen auslösen. Wahrnehmungen und Sinneseindrücke bringen die die verlorene Zeit zurück.
Dieser literarische Impressionismus – Sinneseindrücke als konkrete Anlässe der Erinnerung – ist eine Technik, mit der Erinnerungen und vergessene Erlebnisse lebendig gemacht und durch das inzwischen gewonnene Wissen des Erinnernden transformiert werden können. Im Grunde handelt es sich um Fragmente von Erlebnissen, um Einzelteile, die gesucht werden, um die phantasierte Ganzheit zu erlangen, die Vollständigkeit des narrativen Selbst.
Abschließend möchte ich aus diesem Gewirr unterschiedlicher Stimmen ein Bild erstehen lassen: das von Ibn-Manzurs Bücher-Arche. Der mittelalterliche Lexikograph Ibn Manzur verglich das Wörterbuch, das er verfasst hatte, mit der Arche Noah. Ihm schwebte ein Bücherschiff vor, das die Wogen durchschneidet, durch kollidierende, aneinanderstoßende Worte hindurch, wo Bedeutungen sich mischen und wieder auseinanderstreben, um neuen Platz zu schaffen – oder aber ein Bücherschiff, in dem sich Figuren und Leser verlieren, Wörter verschlungen werden und auf dem Wasser treiben wie Leichen, nachdem sie ihre Bedeutung verloren haben.
Marija M. Bulatović
© Qantara.de 2020
Übersetzt aus dem Englischen von Maja Ueberle-Pfaff